Künstlerkollektiv stellt in Luxemburg die kulturelle Gretchenfrage: „Wat soll dee Schäiss eigentlech?“

Künstlerkollektiv stellt in Luxemburg die kulturelle Gretchenfrage: „Wat soll dee Schäiss eigentlech?“
Der deutsche Schauspieler Wolfram Koch und der Nachwuchsregisseur Jacques Schiltz diskutieren über den letzten Scheiß. Foto: Anne Simon

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Sie beabsichtigen nicht etwa, den Begriff „völkisch“ wieder positiv zu besetzen, aber das Volk aufzumischen, das wollen und können sie allemal. Vier übliche Verdächtige aus der Luxemburger Theaterszene haben sich zusammengetan, die „Volleksbühn“ ins Leben gerufen und ergründen nun im doppelten Wortsinn „Spielräume“. Dabei werden Regeln gebrochen, jede Menge Menschen beleidigt und es kommt fast zu Schwerstverletzten. Ein Heidenspaß also.

Ein Schauspieler liegt neben den Brettern, die angeblich die Welt bedeuten, und jammert. An seinem vom Beruf gebeutelten Leib trägt er lediglich Thermo-Unterwäsche, ein Tutu sowie Schwimmflossen Größe 45. Wolfram Koch ist soeben beim Versuch, am Bühnenrand liegend (mit klassischer Musik im Hintergrund) ausdrucksstark „ech sinn e Stéck Schäiss“ zu sagen (und es auch wirklich zu fühlen), von der Bühne gefallen.

Ein wenig fühlt man sich an das Wahlkampf-Video des Premiers erinnert, das musikalisch mit der luxemburgischen Nationalhymne untermalt war. Gemein ist beiden nicht nur das professionelle Schauspiel, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdienen, sondern auch, dass in Ermanglung von Überzeugungskraft ab und an Kunstgriffe nötig werden, damit die eigene Arbeit überhaupt beim Publikum ankommt.

Unterscheiden tun die zwei Herren mittleren Alters sich jedoch dahingehend, dass Koch sich noch im von der „Volleksbühn“ angeleiteten Probenprozess befindet, während der ehemalige Kulturminister in benanntem Video als einer der Hauptakteure in einer – wenn auch schlechten – so doch fast ausverkauften Vorstellung fungiert.

Koch, der vielen wohl als Frankfurter Tatort-Kommissar ein Begriff ist und rezent in Frank Hoffmanns Inszenierung von Dostojewskis „Die Spieler“ im Grand Théâtre zu sehen war, ließ sich dem Vernehmen nach wohl vor Kurzem von seiner luxemburgischen Schauspielkollegin Anouk Wagener sowie der Regisseurin Anne Simon und dem theatralischen Duo infernale bestehend aus Jacques Schiltz und Tom Dockal dazu verleiten, Teil eines künstlerischen Experiments auf großherzoglichem Boden zu werden.

Das Konzept, das bei der „Volleksbühn“ verfolgt wird, ist jenem der Berliner Volksbühne, die in der Tradition des sozial engagierten Theaters steht, entlehnt. Auch in der deutschen Hauptstadt stand die direkte Auseinandersetzung mit dem Publikum lange Jahre im Fokus.

Trug die erste Produktion der „Volleksbühn“, kurz bevor der Förderantrag beim Kulturministerium eingereicht werden sollte, noch den Titel „De Wolfram Koch ass eng Aaschcroquette“, so wurde das Werk kurzerhand doch umbenannt, da man mit Schimpfworten spätestens nach der Bezuschussung des Theatersstücks „Lëtzebuerg, du hannerhältegt Stéck Schäiss“ von Richtung 22 etwas zu viele politische Konsequenzen massenhysterischer Art riskiert. Allzu viel scheint die Änderung nicht geholfen zu haben, denn das Projekt erhielt gerade so viel, wie sich manche Luxemburger, die nicht freischaffend im Kultursektor tätig sind, eine Flasche Sekt vor dem Autofahren kosten lassen.

De leschte Beschass

Dies sollte der angestrebten „Volksnähe“ im Sinne offener Proben jedoch keinen Abbruch tun. Dem Publikum bot sich am Montag im hauptstädtischen „Gudde Wëllen“ sogar weitaus mehr als nur ein sich unbeabsichtigt selbstverletzender Wolfram Koch. Dieser verzweifelte hier nämlich längst nicht allein daran, dass die Grundessenz des Stücks, also den bereits genannten Satz „Ech sinn e Stéck Schäiss“, gut rüberzubringen, Talent, Selbstüberzeugung und ein nachdrückliches Spiel verlangt.

Auch der Jung-Regisseur Jacques Schiltz glänzte während des Probenverlaufs durch die Unfähigkeit, weder den sich offenkundig in einer beschissenen Sinnkrise befindlichen Schauspieler noch die Autorin des Stücks, Anouk Wagener, die Dauernörgeln augenscheinlich für ein Menschenrecht hält, auf eine Linie zu bekommen.

Wenn Letztere gerade nicht im Raum war, wurde sich über die Unspielbarkeit ihrer Zeilen aufgeregt. Verließ Koch die Bühne, so folgten Tiraden über seine Talentfreiheit sowie seine Profilneurose. Ironischerweise entstand dennoch, als beide sich begegneten, eine derart dicke Schleimschicht, dass man nur hoffen konnte, dass der „Wëllen“ gut versichert ist, da mit derartigen Feuchtschäden nicht zu spaßen ist.

Ohne Publikum nicht zu proben

Für manch einen oder eine mag es wohl das erste Mal gewesen sein, dass sie jene Höhen, allem voran aber die Tiefen, die einer Theater-Produktion vorausgehen können, aus nächster Nähe miterleben durften. Im Veranstaltungstext hatte es geheißen, der Monolog aus der Feder Wageners verlange nach einer derart intimen Kommunikation, dass es praktisch unmöglich sei, ihn ohne Publikum zu proben.

Am Montagabend sah man sich jedoch vielmehr einer kommunikativen Massenkarambolage zwischen Schauspieler, Regisseur und Autorin gegenüber, die sich allesamt scheinbar herzlich wenig daran störten, dass ihre internen Machtkämpfe nicht hinter zugezogenem Vorhang verborgen blieben.

Die Einzigen, die sich nur deswegen nichts zu Schulden kommen ließen (außer vielleicht der Tatsache, dass nun einer von beiden freiwillig einen Schnurrbart trägt), weil sie einfach still in der Ecke saßen, ohne einzugreifen, waren Dockal sowie „d’Simons“ (so die nicht gerade zärtliche Bezeichnung von Anouk Wagener für die Dienstälteste im Team).

Der tratsch-affine Luxemburger kam dennoch auf seine Kosten, da es von gehässigen Bemerkungen über Akteure aus der Kulturszene nur so wimmelte. Mehr als ein Intendant, Schauspieler“kollege“, Serien-Produzent oder ehemaliger Direktor eines Kulturzentrums bekam sein Fett weg. Auch am luxemburgischen Kulturjournalismus wurde kein gutes Haar gelassen und das Tageblatt kann sich wohl glücklich schätzen, dass Jeff Schinker lediglich mit dem Satz erwähnt wurde, man könne ihn auch – ohne seinen Namen zu nennen – als denjenigen bezeichnen, „der gerne endlos viele Adjektive in einem einzigen Satz verwendet“.

Ob der theatralische Mob am heutigen Abend oder am Freitag im „Gudde Wëllen“ erneut nach dem Prinzip „alle Scheiße außer Mutti (und mir)“ agieren wird, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Wer sich nicht all zu sehr für seinen Voyeurismus schämt und das Theatervölkchen mal live und in Farbe erleben möchte, dem sei das Beiwohnen bei diesem Experiment wärmstens ans Herz gelegt. Ein Spektakel der anderen Art wird’s sicher …

 

roger wohlfart
25. Oktober 2018 - 22.17

So sieht also zeitgenössisches Theater resp. Kunst aus? Fäkalienwörter sind mittlerweile nichts Anstössiges mehr und gehören einfach dazu. Grenzen des Anstandes, des Respekts und des guten Geschmacks werden eingerissen. Fuck und Scheisse gehören mittlerweile zur täglichen und öffentlichen Ausdrucksform. Muss das denn wirklich sein? Darf sich die Kultur heute wirklich alles erlauben? Ich glaube es geht auch ohne Shit, oder nicht ?!