„Knights of Sidonia“: Science-Fiction mit gesellschaftskritischem Potenzial

„Knights of Sidonia“: Science-Fiction mit gesellschaftskritischem Potenzial

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Auch mehr als 20 Jahre nach „Ghost in the Shell“ kämpft das japanische Genre Anime im Westen immer noch darum, als Kunstform ernst genommen zu werden. Entgegen dem verbreiteten Irrglaube handelt es sich bei vielen Filmen und Serien keinesfalls um triviale Jugendunterhaltung. Die Serie „Knights of Sidonia“, inzwischen in zwei Staffeln bei Netflix verfügbar, taugt als exzellentes Beispiel für das gesellschaftskritische Potenzial, das in der Science-Fiction steckt – und behandelt dabei Themen, die man in der westlichen Sci-Fi oft schmerzlich vermisst.

Von Tom Haas

Tsutomu Nihei, der Autor des zugrunde liegenden Mangas, hat mit Knights of Sidonia sein bisher vermutlich zugänglichstes Werk geschaffen – die Vorgänger „Blame!“ und „Biomega“ sind kryptische Kost für Cyberpunk-Enthusiasten. Die Anime-Adaptation verzichtet dabei in Teilen auf den skurrilen, pubertär anmutenden Humor des gezeichneten Originals und legt den Fokus stärker auf das soziale Miteinander der Protagonisten in einem faszinierend bedrückenden Setting.

Die Serie erzählt die Geschichte des jungen Mecha-Piloten (siehe unten) Nagate Tanikaze, der in den unterirdischen Gängen von Sidonia von seinem Großvater aufgezogen wurde und dessen einzige Beschäftigung das Training an einem alten Flugsimulator war. Nachdem der Großvater von einem Ausflug der Nahrungsbeschaffung nicht zurückkommt, bricht Nagate, getrieben vom Hunger, selbst in die höheren Ebenen auf – und entdeckt gemeinsam mit dem Zuschauer eine ihm unbekannte Welt.

Themen wie Hunger, Macht und Freiheit

1.000 Jahre nach der Zerstörung des Planeten Erde durch die außerirdische Spezies Gauna driftet die verbleibende menschliche Population auf einem Generationenschiff, der titelgebenden Sidonia, errichtet aus den Trümmern der Erdkruste, durch das Weltall. Die halbe Million Menschen, die auf dem 27 Kilometer großen Schiff dicht gedrängt zusammenleben, sind ihres Wissens nach die letzten Überlebenden – seit mehreren 100 Jahren hat man kein anderes Generationenschiff mehr gesichtet.

Der Hunger ist eines der Leitmotive der Serie – wie ernährt man eine halbe Million Menschen auf einem völlig überbevölkerten Asteroiden? Schnell entpuppt sich die Serie so als düsterer Kommentar zur malthusianischen Bevölkerungsfalle und zeichnet ein beunruhigendes, fortschrittskritisches Bild: Einerseits werden die Körper der Menschen mittels genetischer Manipulation so verändert, dass sie zur Fotosynthese befähigt werden, andererseits wird Essen zu einem Luxusgut für die betuchten Bewohner des Generationsschiffes – die meisten Menschen ernähren sich nur einmal pro Woche auf reguläre Weise, der Rest der Nahrungsaufnahme findet im Solarium statt.

Die vorhandene Nahrung, hauptsächlich synthetisch hergestellter Reis, ist streng rationiert und im Fall einer Knappheit werden jene bevorzugt, die der Gesellschaft am „nützlichsten“ sind. Nagate hat das Glück, als Pilot zu jener Kaste der Auserwählten zu gehören – er ist nämlich nicht modifiziert, die Fotosynthese ist für ihn keine Option. Andere Menschen werden im Falle einer Nahrungsmittelknappheit kontrolliert verhungern gelassen.

Rollenverschiebung für den Menschen

Eine grauenerregende Faszination geht auch von den Gauna aus, die in ihrer Gesamtheit ein Rätsel bleiben. Es handelt sich dabei um organische Wesen, die im Vakuum leben und um einen Zellkern herum ihre Gestalt verwandeln können. Niemand weiß, weshalb sie die Menschen angreifen und woher ihre Zerstörungswut rührt. Die Wissenschaftler auf der Sidonia halten es sogar für möglich, dass die Angriffe lediglich Kommunikationsversuche darstellen.

Fest steht nur, dass sie eine existenzielle Bedrohung für den Rest der Menschheit darstellen – ähnlich wie der Mensch auf der Erde es heute für andere Tiere ist. Und obwohl die Piloten in ihren „Guardians“ oder „Gardes“, humanoiden Roboterraumschiffen, eine prekäre Verteidigung aufbauen können, ist allen klar, dass ein ernsthafter Angriff der Gauna das Ende der Sidonia bedeuten würde.

Die Frage nach einer Macht, deren Verständnis sich dem Menschen entzieht und die eigene übersteigt, ist ein Thema, das heute aktueller ist denn je. Existenzielle Bedrohungen wie der menschengemachte Klimawandel entziehen sich ebenso der Beherrschung durch seine Verursacher, wie es die rasch voranschreitende Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz tut – beides sind Bedrohungen, die beispielsweise am „Future of Humanity Institute“ an der Universität von Oxford von Philosophen wie Nick Bostrom ernsthaft diskutiert werden.

„Knights of Sidonia“ begnügt sich jedoch nicht damit, ein beunruhigendes Bild zu zeichnen, sondern stellt explizit die Frage, welche Gesellschaftsform durch eine solche existenzielle Bedrohung entstehen würde. Die Antwort ist so schlicht wie überzeugend: eine autoritäre Militärdiktatur, die persönliche Freiheiten beschneidet und eine Logik des „kollektiven Überlebens“ propagiert – bei einem Gauna-Angriff ist es durchaus akzeptabel, die Hälfte der Bevölkerung zu opfern, wenn dafür die Menschheit als solche erhalten bleibt.
Dieser rigide Konsequentialismus sollte uns vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen durchaus zu denken geben. Die liberalen Demokratien des Westens stehen jetzt bereits unter Beschuss, autoritäre Tendenzen steigen an allen Ecken und Enden. Wenn diese Bewegungen anfangen, ihren Herrschaftsanspruch mit dem Schutz der Menschheit vor existenziellen Bedrohungen zu untermauern, wird ihr Zuspruch nicht geringer werden.

Foucaults Konzept der Bio-Macht ist zentral für die Analyse der Autoritätsstrukturen auf der Sidonia – die Eingriffe der Diktatur reichen bis in die privatesten Lebensbereiche. Geschlechtlichkeit ist eine Frage der persönlichen Vorliebe, Klonen ist an der Tagesordnung, ebenso die asexuelle Reproduktion. Was auf den ersten Blick fortschrittlich wirkt, zielt beim näheren Hinsehen auf eine Entfremdung und Störung persönlicher Bindungen.

Das nackte (Über-)Leben

Das Leben der Menschen soll voll und ganz dem Fortbestand der Zivilisation dienen, persönliche Erfüllung und Glück werden somit zu Luxusgütern, zu einer Art Bezahlung für geleistete Dienste am Volkskörper. Der italienische Philosoph Giorgiom Agamben hat in seinem Hauptwerk „Homo Sacer“ die Foucault’sche Bio-Macht auf den gesellschaftlichen Ausnahmezustand ausgeweitet – dieser findet nun in „Knights of Sidonia“ seine fiktionalisierte Wirklichkeit.

Sämtliche Narrative, die in dem Anime verhandelt werden, sind für die aktuellen Debatten über Transhumanismus, Zukunftsforschung und Klimaforschung in höchstem Maße relevant. „Knights of Sidonia“ ist ein finsterer Kommentar zu den technischen und politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, der allerdings nie in den Zynismus überschwappt. Dafür sind die Charaktere zu menschlich, tragen ihre Schwächen, Träume und Hoffnungen mit sich und schaffen sich kleinste Freiräume, um sie zu leben.

Die Zweisamkeit zwischen Nagate und Hoshijiro im Wrack des beschädigten Guardian ist eine der berührendsten Liebesszenen der Fernsehgeschichte. Denn neben der Ideologiekritik schafft Nihei es auch noch, mit „Knights of Sidonia“ eine spannende, hochemotionale Geschichte zu erzählen – eine solche Mixtur aus intelligenter Beobachtung und starker Dramatik findet sich selten. Auch nicht bei „richtigen“ Serien.

Die zwei Staffeln mit jeweils 12 Folgen sind im japanischen Original mit deutschen Untertiteln bei Netflix zu sehen. Eine dritte Staffel befindet sich in Produktion.


Was sind Mechas?

Als „Mecha“ bezeichnet man in Japan sowohl übergroße, humanoide Roboter, die in der Regel von Menschen gesteuert werden, als auch das Subgenre, das in Mangas und Animes um diese Roboter herum entstanden ist. Die Guardians oder Gardes in „Knights of Sidonia“ sind klassische Mechas, wie man sie in vielen japanischen Publikationen findet – sie sind eine Eigenheit der Science-Fiction aus dem Land der aufgehenden Sonne. In westlichen Medien tauchen sie beispielsweise in „Pacific Rim“ von Guillermo del Toro und, im weitesten Sinne, in Michael Bays „Transformers“ auf.