Klangwelten: Das hören unsere Musik-Experten

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In unserer Rubrik Klangwelten werden regelmäßig Alben rezensiert. Unsere Musikspezialisten haben sich diese Woche die neuesten Alben von Thrice und Laing angehört.

Die Radiohead des Postcore: „THRICE – Palms“

von Jeff Schinker

Nach 20 Jahren Bandexistenz veröffentlichen Thrice mit „Palms“ eine Art Werkschau, die den stilistischen Entwicklungen der Band huldigt und teilweise neues Terrain begeht. Da, wo die ersten Tracks zu sehr nach Thrice-By-Numbers klingen, entwickelt sich das Album im Laufe seiner zehn Songs zu einer melodisch beeindruckenden, abwechslungsreichen Platte.

Den Werdegang einer Band wie Thrice zu verfolgen, gehört mit zu den spannenderen Beschäftigungen eines Musikjournalisten: Von den frühen Hardcore-Punk-Tagen, am Ende derer die amerikanische Band das frühe Meisterwerk „The Artist in the Ambulance“ (2003) veröffentlichte, entfernte sie sich auf dem grandiosen „Vheissu“ (2005), benannt nach einem mythischen, unauffindbaren Ort aus Schriftsteller Thomas Pynchons erstem Roman „V“. Auf „Vheissu“ experimentierte das Quartett, was das Zeug hielt, schrieb aber gleichzeitig wunderbare Songs, die Jazz-, Blues- und Gospel-Elemente in ihren komplexen Postcore auf eine unkonventionelle Art verknüpften.

Mit dem anschließenden „The Alchemy Index“ (2007, 2008), das aus vier LPs bestand, die die Herausforderung aufnahmen, die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft zu vertonen, brachten sie ein kompromissloses Opus magnum heraus, das eine schier beeindruckende Vielfalt an den Tag legte.

Die folgenden „Beggars“ (2009) und „Major/Minor“ (2011) loteten diese Vielfalt weiter aus, komprimierten sie aber auf ein konventionelleres Album-Format. Gut waren diese Scheiben allemal, nur schien die Band, die man getrost als Radiohead des Postcore bezeichnen kann, etwas auf der Stelle zu treten – man kann sich eben nicht alle drei Jahre neu erfinden.
Nach einer kurzen Bandpause kam „To Be Everywhere Is To Be Nowhere“ (2016), die Band klang etwas weniger brachial, kam zahmer und zurückhaltender, vielleicht etwas zugänglicher und deswegen radiotauglich daher. Das Songwriting war weiterhin toll, technisch spannend, neue Ideen waren allerdings eher Mangelware: Man musste sich nach der Auszeit wohl erst wieder zusammenfinden.

Wiedergefundenes Selbstvertrauen

Auf dem zweiten Comeback-Album klingt die Band wieder eingespielter, traut sich auch wieder mehr zu: Nach dem relativ überraschungslosen, aber grundsoliden Auftakt (bei „Only Us“ klingt ein 80er-Jahre-Synthie mit, „The Grey“ hätte allerdings auch auf „Beggars“ fungieren können) überzeugt „The Dark“ mit seinem Schlussteil, in dem man einen Chorus von über 1.000 Fans hört, die von der Band aufgerufen wurden, eine bestimmte Textmelodie aufzunehmen und an die Band zu schicken und Album-Highlight „Just Breathe“, auf dem Sänger Dustin Kensrue mit der Gastsängerin Emma Ruth Rundle duettiert, während Gitarrist Teppei Teranishi einen seiner sowohl eingängigen als auch technisch komplexen Riffs über den fräsenden Bass von Eddie Breckenridge legt.
Leider folgt auf diesen Höhepunkt das Albumtief „Everything Belongs“, dessen anfangs kitschige Coldplay-Melodie allerdings von Teranishis Post-Rock-Gitarren wieder aufgefangen wird.

Auf der zweiten Hälfte der Platte kommt die Band dann noch mal so richtig in Fahrt: Das ergreifende „My Soul“ wird von „Branch in the River“ gefolgt, auf dem Dustins Stimme wieder wunderbar kratzig klingt, der Bass meisterhaft oktaviert und Schlagzeug und Gitarren zeigen, dass das Quartett seine angriffslustigen Hardcore-Tage noch nicht hinter sich hat.

„Blood on Blood“ klingt wie die perfekte Osmose aus Folk und Hardcore, die Harfe, die in der Mitte des Songs auftaucht, ist eine mutige, wunderbar gelungene Idee und das abschließende „Beyond the Pines“ ist schlicht, ergreifend und unkitschig. Kensrues Texte, die – der Albumtitel verrät es – den mannigfaltigen Einsatz unserer Hände – zur Faust geballt oder empathisch geöffnet – thematisieren, sind manchmal etwas zu simpel, dafür aber glücklicherweise weniger religiös als sonst. „Palms“ erinnert in seiner Vielfalt am ehesten an „Beggars“. Dass die Band nach 20 Jahren relativ wenig an Relevanz eingebüßt hat, ist bemerkenswert.

WERTUNG: Jeff Schinker vergibt acht von möglichen zehn Punkten.


Wem das Herz schenken?: „LAING – Fotogena“

Von Oliver Seifert

Seit gut einem Jahrzehnt nimmt sich das Berliner Frauenquartett Laing um Songschreiberin und Produzentin Nicola Rost frech die Zutaten, die es für seine Musik braucht, aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Schlager, Motown- und 60s-Girlgroup-Pop, Neuer Deutscher Welle, Chanson, elektronischer Musik und lakonischer Poesie eines Erich Kästner. Und wenn alles Kopieren, Zitieren, Verweisen und Verfremden nicht ausreicht, werden komplette Songs von Trude Herr („Morgens immer müde“) oder Heintje („Sei doch bitte wieder gut“) auf ganz eigene Weise neu interpretiert.

Das dritte Album „Fotogena“ wagt sich wieder hinein in die Turbulenzen des Alltags, deren Dramatik und Tragik, Peinlichkeit und Sinnlosigkeit mit Neugier, Beobachtungsgabe, Sprachwitz und Ironie herausgearbeitet werden. Auch die 13 neuen Songs leben von digitalem Puls und analoger Seele. Verhandelt werden bröckelnde Beziehungen (im ignoranten 2/4-Takt), sich anbahnende, aber kategorisch unterbundene Beziehungen (mit irritierten Synthie-Motiven), sehnlichst erhoffte Beziehungen (unter Einsatz von Piano und Handclaps) oder längst getrennte Beziehungen (mit kieksiger Judith-Holofernes-Stimme und verschlepptem Tempo). Vom mürrisch begrüßten Scheißtag in „Nieselregen“ mit einem Serge-Gainsbourg-Chanson, wo mal ein Gassenhauer von Erik Silvester war („Zucker im Kaffee“), zur fröhlich und selbstbewusst vorgetragenen Einladung in „Hoch ist die richtige Richtung“ ist es nur ein kleiner Schritt.

Unentwegt sind Entscheidungen zu treffen, doch die quälende Schwere der Wahl wird mit nonchalanter Leichtigkeit aufgefangen. Wo das Glück suchen? Wem das Herz schenken? Wann bei WhatsApp wieder reinschauen? Einfach immer schön entspannt bleiben, so wie Laing auf ihrem neuen Album, das melancholische Streicher-Arrangements und skeptisches Bass-Gegrummel ebenso zu schätzen weiß wie schwelgerische Blumfeld-Harmonien und ätherische Chöre. „Fotogena“ nähert sich von vielen Seiten in vielen Facetten den Herausforderungen. Und wenn dazu gerade nicht getanzt werden kann, dann darf durchaus ein bisschen gelauscht und gegrübelt werden.

WERTUNG: Oliver Seifert vergibt acht von möglichen zehn Punkten.