Klangwelten: Das hören unsere Musik-Experten

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Keine Grenzen: Ambrose Akinmusire – Origami Harvest

Der Impuls zum Ersinnen des jüngsten Albums unter der Leitung von Trompeter Ambrose Akinmusire entstammt einer einfachen Frage des Kurators vom „Manhattan Ecstatic Music Festival“, Judd Greenstein: „Was ist die verrückteste Idee, die du hast?“

Als Auftragswerk in Zusammenarbeit von Greenstein und Kate Nordstrum von den „St. Pauls Liquid Music Series“ bestellt, sah das Repertoire das Licht einer Bühne bereits auf dem Newport Jazz Festival im August und wurde dort von Kritikern wie dem Rolling Stone Magazine sehr gelobt. Zu Recht! Viel zu selten hört man so ein reichhaltiges, Grenzen überschreitendes Werk, das organisch und sinnvoll herüberkommt. „Origami Harvest“ schafft genau das, indem es ein exzellentes klassisches Streichquartett (das Mivos Quartett aus New York) mit dem Art-Rapper Kool A.D. sowie einem modernen Jazz-Trio verbindet.

Sam Harris an den Tasten sowie ein unfassbarer Marcus Gilmore am Schlagzeug geben hier den Takt an. Roter Faden durch das Album ist der leider immer noch aktuelle Rassismus in den Vereinigten Staaten, der sich in unzähligen tödlichen Zwischenfällen äußert, oft gar in feiger Polizeigewalt kulminierend. Der erste Titel ist somit auch Hommage an Trayvon Martin, den jungen Mann, der 2012 in seinem Kapuzenpullover erschossen wurde und die Rassismus-Diskussion neu entfachte. „Origami“ im Titel bezieht sich Akinmusires Angaben zufolge auch auf „die verschiedenen Arten, nach denen sich Schwarze (…) beugen müssen, sei es zu Unrecht oder um in eine Form zu passen“.

Des weiteren sind alle Kompositionen ein Hin und Her zwischen Angst und Hoffnung, jede auf ihre Art eine Reise in die verschiedensten Aspekte eines modernen Amerikas. Dies drückt einerseits die mal flächige, mal extreme Benutzung des Streichquartetts aus, aber auch die ekstatischen Schlagzeugeinlagen, irgendwo zwischen entfesselten Soli und Kopfnicker-Beats. Das melodische und harmonische Material ist anspruchsvoll, aber nicht unverständlich, und lässt eine nicht zu verleugnende Melancholie durchscheinen. Ein emotionsgeladener Aufschrei im Mittelpunkt zwischen Verzweiflung und Hoffnung!

WERTUNG: Pol Belardi vergibt neun von möglichen zehn Punkten.


Kritisch gegenüber Social Media: Mudhoney – Digital Garbage

Die sozialen Netzwerke und deren Effekte sind eines der zentralen Themen des neuen Mudhoney-Albums. Wie das Quartett aus Seattle zu diesem Thema steht, deutet bereits der Titel ihres zehnten Studioalbums „Digital Garbage“ an. Sänger und Gitarrist Mark Arm sagte unlängst (auf der Seite des Labels Sub Pop) dazu: „Ich bin nicht auf Social Media, also ist meine Erfahrung etwas begrenzt. Aber die Leute scheinen Bestätigung durch die ‚Likes‘ zu finden – und dann gibt es Facebook-Live, wo Leute Folter und Mord gestreamt haben, oder, im Fall von Philando Castile, von einem Polizisten ermordet wurden. Während des Schreibens dieses Liedes habe ich darüber nachgedacht, wie man, wenn man einmal etwas online gestellt hat, es nicht mehr wegwischen kann. Es wird immer da sein – auch wenn es niemand ausgräbt, es schwebt immer noch irgendwo da draußen.“

Im Video zur Single „Kill Yourself Live“ zeigt Regisseur Carlos A.F. Lopez laut Mudhoneys Label „ein Update des Social-Media-Systems am Beispiel der Kreuzigung von Jesu Christi“. Die Menschen, die den Kreuzgang Jesu begleiten, tanzen und erfreuen und ergötzen sich an der Szenerie. Arm singt dazu: „When I kill myself live/I got so many likes/Go on give it a try/Kill yourself live/You’ll never be more famous/You’ll never be more popular.“ Was sich wie ein völlig überzogener Monty-Python-Sketch liest, ist längst Realität.

Der Soundtrack zu dieser Sozialkritik ist Mudhoneys unnachahmlicher, rauer, mit Melodien gespickter Alternative Rock, der von Arms Stimme geprägt ist und der sich damals deutlich von der großen Grunge-Welle ihrer Heimatstadt abgehoben hatte.

Arm und seine Kollegen – Steve Turner (Gitarre), Guy Maddison (Bass) und Dan Peters (Schlagzeug) – servieren auf „Digital Garbage“ wunderbar treibende, kantige Rocksongs. Sie bauen auch mal eine schleichende Passage ein, die letztlich aber doch wieder in fiebrigen Rock übergeht („Night And Fog“).

WERTUNG: Kai Florian Becker vergibt acht von möglichen zehn Punkten.


John, George und die verlorene Magie: Paul McCartney – Egypt Station

Ja, wer sind wir denn, Sir Paul McCartney vorzuschreiben, worüber er Lieder schreiben darf und worüber nicht? Dennoch: Wenn ein 76-Jähriger ein Lied übers Aufreißen und Abschleppen auf einer Party singt („Come On To Me“), sich in einem anderen Song tatsächlich mit den Worten „You make me wanna go out and steal“ und „I just wanna fuh (Phonetik: Fuck) you“ an eine Lady wendet, dann überkommt einen schon ein bisschen Fremdscham. In dem Alter nimmt man höchstens Jagger oder Tom Jones noch den Schwerenöter ab.

Die Veröffentlichung von McCartneys neuem Album „Egypt Station“ und seine Rückkehr nach Liverpool, wo er unter anderem im Neubau des legendären Cavern Club seine Fans zum Durchdrehen brachte, lösten auch im Internet eine neue Beatlemania aus. Viele Musikkritiker halten die Platte für ein Meister- oder zumindest ein großes Alterswerk, dabei ist sie, nüchtern betrachtet, so wie viele seiner Soloplatten allerhöchstens Durchschnitt. Seit „Band on the Run“ (erschienen 1973), damals noch mit den Wings, hat der erfolgreichste Songschreiber aller Zeiten kaum etwas Relevantes veröffentlicht. Die einzige Ausnahme stellt wohl das Album „Chaos and Creation in the Backyard“ von 2005 dar, das mit Hilfe von Radiohead-Produzent Nigel Godrich zustande kam und dessen zeitlos schöne Songs man immer wieder gerne hört.

Zeitlos schön sind diesmal nur die Klavierballaden „I Don’t Know How“, „Hand In Hand“ und „Do It Now“, die auch von den Texten her berühren, da sie einen ehrlichen Blick ins Innere des Komponisten zulassen. Bei diesen Stücken kommt auch „Maccas“ Gesangsstimme am besten zur Geltung. Am Ende von „Egypt Station“ gibt es außerdem noch den knapp siebenminütigen Protestsong „Despite Repeated Warnings“, der sich an die Adresse aller Klimawandel-Leugner richtet (allen voran natürlich „The Donald“) und dessen musikalische Komplexität dann doch noch die Genialität dieses Multi-Instrumentalisten und Soundtüftlers durchblitzen lässt. Auch die Parallelen zu ELO im Aufbau sowie bei den Klangeffekten, mit denen die Gesangsspuren versehen wurden, sind hier mehr als originell.

Alle Stücke, in denen der gute Mann mit seinen 76 Lenzen losrockt oder losrocken möchte, sind leider hochnotpeinlich. Ob „Who Cares“, „Caesar Rock“ oder das eingangs erwähnte „Come On To Me“, für dieses ganze Zeug gilt: Immer dann, wenn McCartney versucht, Stimme und Attitüde, die vor rund 50 Jahren bei „Helter Skelter“ noch funktionierten, aus der Versenkung zu holen, wird’s schlimm; das sollte er definitiv lassen!

WERTUNG: Gil Max vergibt fünf von möglichen zehn Punkten.