Keine Konterrevolution

Keine Konterrevolution

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Claude Wiseler soll seine Partei als CSV-Spitzenkandidat erneut in die Regierung führen. Ein Machtwechsel würde jedoch auch die von der CSV stark kritisierten Entscheidungen der aktuellen Mehrheit nicht infrage stellen. Ein Gespräch mit dem neuen Zugpferd der Christlich-Sozialen.

Tageblatt: Während der Legislaturperiode hat die CSV die meisten Gesetzesprojekte mitgetragen. Wie kompliziert ist die Oppositionsarbeit für eine Partei wie die CSV, insbesondere zehn Monate vor den Parlamentswahlen?

Claude Wiseler: Ich empfinde die Oppositionsarbeit keineswegs als schwierig. Sie kann manchmal frustrierend sein, weil man seine eigenen Vorschläge nicht umsetzen kann. Ich sehe sie als Teil der politischen Arbeit. Das gehört einfach dazu. Für mich persönlich war es eine ganz positive Erfahrung, weil sie es mir nach Jahren in einem äußerst interessanten, aber sich viel mit technischen Fragen befassenden Ressort erlaubt hat, mein politisches Diskussionsfeld ganz breit zu öffnen. Ich habe diese vier Jahre für meine politische Erfahrung sehr genutzt.

Was die Partei anbelangt, so erlaubt die Opposition es, anderes zu erledigen, was man während der Regierungszeit nicht kann. Wir konnten andere programmatische Kapitel aufschlagen und uns neu aufstellen. Als langjährige Regierungspartei hat uns die Opposition gutgetan, vorausgesetzt, wir kommen wieder raus.

Da brauchen Sie sich eigentlich keine Sorgen zu machen, die Umfragen bestätigen ja den Durchmarsch der CSV in die nächste Regierung.

Ein Jahr vor den Wahlen ist eine lange Zeitspanne, und man sieht auch in großen Ländern, wie schnell die Stimmung umschlagen kann. Und außerdem ist ein Fehler schnell gemacht, sowohl in der Opposition als auch in der Regierung. Hinzu kommt ja das Phänomen, dass sich viele Leute erst kurz vor den Wahlen entscheiden. Ich misstraue den Umfragen.

Wenn wir schon bei den Wahlen sind: Wird die CSV Entscheidungen zurücknehmen, die sie bei Gambia kritisiert hat?

Es wurden Entscheidungen getroffen, die wir so nicht getroffen hätten. Was ich aber sagen möchte, ist, dass wir uns nicht in einem bipartisanen System, wie etwa in Frankreich oder in den USA, befinden, wo eine neue Regierung zuerst einmal alles zerschlägt, was die vorherige getan hat. Wir gehören nicht zu denen, die alles zertrümmern. Das wollen wir nicht. Das ist nicht die Art und Weise, wie in Luxemburg Politik gemacht wird. Wir schreiben uns in eine Kontinuität ein und passen die Politikfelder, die wir kritisiert haben, aufgrund unserer Vorstellungen an. Ich wiederhole: In einem kleinen Land mit unserem System, wo man es mit variablen Koalitionen zu tun hat, befindet man sich nicht in einem bipartisanen System. Und deshalb war es vor einigen Monaten für mich wichtig, dass klare Linien gezogen werden, was mögliche Koalitionen anbelangt, als man uns einerseits Gambia, andererseits CSV-ADR, also rechts-links, aufzuzwingen versuchte.

Also keine Koalition mit der ADR?

Ja, so ist es.

Aber ist es andererseits nicht ehrlicher gegenüber dem Wähler, wenn man schon vor den Wahlen seine Koalitionspräferenzen ausspricht? Den Gambia-Parteien wird dies ja noch heute vorgehalten.

Grundlegend unehrlich ist es, wenn man das vor den Wahlen weiß und beabsichtigt, das aber nicht sagt.

Aber waren diese Absichten der Gambia-Parteien nicht irgendwie schon ziemlich überall bekannt?

Vielleicht war das in einigen Kreisen bekannt. Wir haben das manchmal als Gefahr angesprochen, aber es war uns nicht bewusst, dass es dazu bereits ein Abkommen gab. Das wurde ja u.a. in Büchern bestätigt, die zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Aber ich will hier keine Geschichtsbewältigung betreiben. Ich bin nicht nachtragend. Das ist für mich Geschichte.

Das heißt, die CSV ist koalitionsoffen?

Ja, mit Ausnahme der ADR. Bei den drei Gambia-Parteien hängt es von zwei Fragen ab: erstens das Wahlresultat und zweitens die programmatischen Schnittstellen. Für mich sind eine Reihe Reformen wichtig. Wenn das für andere „No-Gos“ sind, dann wird das kompliziert. Wir haben Schnittstellen mit allen Parteien. Aber es ist derzeit wegen noch nicht vorhandener Programme noch verfrüht und kompliziert, konkreter zu werden. Ich würde nicht in eine Wahl gehen, wenn bereits eine Absprache mit einer anderen Partei besteht.

Nochmals zurück zu einer möglichen Regierungsbeteiligung der CSV und zur Kritik an den Entscheidungen der aktuellen Regierung. Gilt die oben erwähnte Politik der Kontinuität auch für die Frage von Trennung von Kirchen und Staat?

Ich weiß nicht, welche Situation wir am Ende der Legislaturperiode vorfinden werden. Wir diskutieren derzeit mit den Kirchenfabriken. Ich weiß nicht, ob das Gesetzesprojekt gestimmt wird oder nicht. Unsere Position hängt am Ende davon ab, welche reale Situation wir vorfinden werden. Sind die Kirchenfabriken total abgeschafft oder nicht? Sind alle Besitztümer in einen Fonds übertragen worden? Dann haben wir eine Realität, an der es schwer sein wird, vorbeizukommen. Sollte das Gesetz noch nicht in Kraft sein, so unterbreiten wir einen Vorschlag, der für uns sinnvoller ist. Der sieht eine drastische Reduzierung der Zahl der Kirchenfabriken und eine moderne Organisation vor.

Das heißt, es wird keine 180-Grad-Wende geben?

Ich glaube, dass die Wirklichkeit das gar nicht zulässt. Sogar wenn man es wollte. Bei der Frage der Kirchenfabriken haben ja auch die Kirche und das Bistum eine Position eingenommen, die klar ist.

Es bleibt auch bei der zivilen Zeremonie zum Nationalfeiertag?

(lacht). Ich habe mir diese Frage eigentlich noch nicht gestellt.

Die CSV hat stets die Finanzpolitik der Regierung kritisiert, insbesondere was die Staatsschuld anbelangt. Diese ist jedoch nicht auf übermäßige Konsumausgaben zurückzuführen, oder? Die Mittel fließen doch in Investitionen?

Die Investitionen kontestieren wir nicht. Aber unter anderem die Steuerreform hat zur steigenden Verschuldung beigetragen. Um die Folgen unseres Wachstums zu kompensieren, sind unsere Investitionsanstrengungen sogar noch zu klein. Das Argument des Finanzministers, auch ein Privathaushalt würde sich verschulden, um eine Immobilie zu kaufen, und die Schuld über Jahre abzustottern, greift nicht. Investitionen müssen wir über viele Jahre jedes Jahr erneut tätigen. Als Privatmann kauft man aber nicht jedes Jahr ein Haus. Wir schaffen es nicht bei diesem Rhythmus.

Wann werden wir beginnen, Reserven anzulegen, wenn nicht jetzt, bei guten Wachstumsraten? Statec zufolge befinden wir uns auf dem Höhepunkt des aktuellen Wachstumszyklus. Wenn ich das den Menschen sage, wirft man mir vor, ihnen Angst machen zu wollen. Dabei sage ich nur, lasst uns jetzt Reserven bilden, damit wir reaktionsfähig bleiben, sollte es schlechter gehen. Das ist eigentlich eine verantwortungsvolle Politik.

Deshalb haben wir gesagt, dass wir eine Reihe von Maßnahmen dieser Regierung so nicht getroffen hätten. Wir hätten die Steuerreform nicht in der vorliegenden Art getan, ebenso die Reform der Gemeindefinanzen. Wir hatten Alternativen vorgelegt, die unter dem Strich nicht so teuer geworden wären. Etwa beim Elternurlaub. Ich finde vieles sympathisch. Aber man muss wissen, dass alles, was wir drauflegen, das Staatsdefizit noch vergrößern und neue Verschuldungen nach sich ziehen wird.

Aber verglichen mit den 356 Millionen Euro, die beispielsweise der Ausbau der A3 kosten wird, sind diese Ausgaben etwa bei der Familienpolitik oder zur Anschaffung von Tablets für die Schulkinder doch „Peanuts“.

Natürlich. Aber Investitionsausgaben erfolgen nur einmal, die anderen Ausgaben werden jährlich getätigt. Aber irgendwo müssen Schlussstriche gezogen werden. Übrigens zu den „Peanuts“: Bei der Steuerreform haben wir es mit ganz anderen Beträgen zu tun.

Wenn das alles, was die aktuelle Regierung beschlossen hat – etwa in der Familienpolitik –, so teuer wird, dann muss die CSV, einmal zurück in der Regierung, massiv auf die Bremse treten. Wird man den Familien etwas wegnehmen?

Es geht nicht ums Wegnehmen. Ich habe gesagt, dass wir vieles anders gemacht hätten. Nun aber ist das geschehen. Und ich will in einer nächsten Legislaturperiode nicht einfach alles wieder rückgängig machen. Es muss eine andere Politik betrieben und es müssen andere Mittel gefunden werden, um diese Politik zu finanzieren. Das werden wir in den nächsten Monaten in unserer Wahlkampagne erklären.

In anderen Worten ausgedrückt: Es müssen also Ressorts ausfindig gemacht werden, in denen gespart werden kann?

Es kommen jährlich zusätzliche Ausgaben und auch neue Einnahmen hinzu, aber die jährlich wiederkehrenden Ausgaben sind merklich angestiegen. Wir müssen versuchen, in den kommenden Jahren die neuen Ausgaben in den Griff zu bekommen. Das wird kompliziert.

Die neuen Investitionsvorhaben, die am Mittwoch im Parlament vorgestellt wurden, wurden auch von der CSV mitgetragen.

Ich glaube nicht, dass man bei den Investitionen viel einsparen kann, denn wir brauchen Wachstum. Aber ich glaube auch nicht, dass wir das heutige Wachstum über Jahrzehnte halten können. Wir müssen das Wachstum aber so gestalten, dass es von den Menschen weiterhin akzeptiert wird.

Eine andere Frage ist freilich, ob man als kleines Land wie Luxemburg überhaupt das Wachstumstempo steuern kann.

Das ist die große Herausforderung. Wie kann ich das Wachstum steuern und wie kann es so gestaltet werden, dass es nicht bloß ein demografisches ist? Denn das Wachstum, das wir derzeit haben, ist kein Produktivitätswachstum, sondern hauptsächlich ein demografisches, dadurch, dass die Zahl der Beschäftigten wächst. Und das sind oft Leute, die wir nicht direkt auf unserem Arbeitsmarkt finden, wobei ich hier nicht missverstanden werden möchte. Das erhöht den Druck auf die Infrastruktur, den Wohnungsmarkt. Wenn wir dem Rhythmus in diesen Gebieten nicht folgen können, riskieren wir, dass diese Politik nicht mehr unterstützt wird. Und davor warnen wir.

Und die CSV kennt die Lösung?

Es gibt nicht eine Lösung, die das Problem behebt. Es geht darum, sämtliche Mittel in Bewegung zu setzen, um etwa die Niederlassung neuer Betriebe oder Produktivitätsgewinne in bereits vorhandenen Unternehmen besser steuern zu können. Wie das Wachstum gesteuert werden kann, ist eine der komplexesten Fragen überhaupt. Wir möchten sie aber angehen. Wir wollen nicht einfach sagen, wir brauchen Wachstum und kümmern uns nicht, wie es geschieht und in welchem Rhythmus.

Ja, aber das sind ja Überlegungen, die die aktuelle Regierung mit dem sogenannten Rifkin-Prozess anzustoßen versucht.

Wobei jedoch die Frage „Wie viel Wachstum und Wachstumstempo?“ nicht gestellt wurde. Das haben auch die Grünen im Parlament mit aller Deutlichkeit gesagt. Die erste Frage „Wohin wollen wir, wie bekommen wir das in den Griff, wie steuern wir das Ganze?“ wurde überhaupt nicht gestellt. Es wurde ein Modell für 2060 dargelegt, aber über die einzelnen Etappen, wie wir dorthin kommen, wissen wir nicht viel. Das sage nicht nur ich. Und ein weiterer Mangel ist, dass die ganze soziale Umstellung überhaupt nicht behandelt wird. „Sharing Economy“ wird als Allheilmittel dargestellt. Wie sie sozial ausgestaltet werden soll, darüber wird kein Wort verloren. Herrn Rifkin zufolge könnte man mit seinem Entwicklungsszenario bis zu 24.000 neue Jobs pro Jahr schaffen. Aber die Frage, welches Wachstum wir eigentlich wollen, wird hier überhaupt nicht angegangen. Über diese Fragen muss intensiv diskutiert werden.

Sie haben Gambia Inkohärenz vorgeworfen. Sie trete nicht mehr geschlossen auf. Als Beispiele werden das Gesetz zum Burka-Verbot oder die Anhebung des Mindestlohns genannt. Aber eine Koalition setzt doch nur das um, was sie im Regierungsprogramm vereinbart hat.

Es ist schon erstaunlich, dass zwei Minister im Parlament bei solch einer zentralen Frage wie der der Steuerung des zukünftigen Wachstums das genaue Gegenteil sagen. Da muss man sich ja als Oppositionspartei fragen, was denn in dieser Koalition los ist. Das ist ja unsere Rolle. Man wirft mir vor, den Wahlkampf eröffnet zu haben, aber sind es, aufgrund dieses Beispieles, nicht vielmehr die Politiker der Regierungsparteien, die diesen Schritt getan haben? Oder beim Mindestlohn, wo Arbeitsminister Nicolas Schmit eine Erhöhung vorschlägt, der Koalitionspartner DP das aber sofort brutal zurückweist. Auch da muss man sich doch Fragen stellen dürfen. Ähnliches könnte man über das Burka-Verbot und über die Besteuerung der Stock-Options sagen. Vom Premierminister kann man aber fordern, für Kohärenz zu sorgen. Und seltsam ist dann auch, wenn der Arbeitsminister öffentlich via Tageblatt fordert, einen Punkt auf die Tagesordnung des Ministerrats zu setzen, und der Staatsminister reagiert nicht. Oder dass man den Staatsminister bei Debatten über die Zukunft des Landes – Stichwort Rifkin-Prozess – nicht hört.

Das war ja einer der Vorwürfe an Jean-Claude Juncker, dass er sich in alle Ressorts einmischte, obwohl der Premierminister nur ein „Primus inter Pares“ ist und die einzelnen Minister ihre Bereiche selbst verwalten.

Aber der Primus inter Pares kann ja nicht abseits stehen, wenn sich zwei Minister öffentlich im Parlament streiten. Ich finde, Regierungspolitik muss kohärent sein.

Ex-Premierminister Jean-Claude Juncker soll im Rahmen des Prozesses gegen drei ehemalige SREL-Mitarbeiter als Zeuge vor Gericht aussagen. Kann das der CSV schaden, den Wahlkampf beeinflussen?

Weiß ich nicht. Die Justiz muss ihre Arbeit machen. Andere Kommentare kann ich nicht abgeben.

Der rezenten Umfrage von RTL und Wort zufolge rückt Ihre Parteikollegin Viviane Reding vor Ihnen in der Beliebtheitsskala. Kann das zu einer Änderung der Parteistrategie bei den Wahlen führen?

Nein, die Partei hat ja gesagt, wie wir uns aufstellen. Ich bin froh, dass Viviane Reding unserer „Equipe“ angehört und sie ihre Kompetenzen einbringen kann.

Werden die neuen Umfrageergebnisse Ihren persönlichen Wahlkampf beeinflussen? Ihnen wurde vorgeworfen, bei den Gemeindewahlen nicht präsent gewesen zu sein.

Ich hatte ja auf eine Kandidatur in den Gemeindewahlen verzichtet. Infolgedessen war es normal, dass ich während des kommunalen Wahlkampfs weniger präsent war. Das wird sich natürlich bei den Parlamentswahlen ändern. Unabhängig von dem, was Umfragen sagen. Ich freue mich darauf.


Die Vita des Claude Wiseler

Claude Wiseler, Jahrgang 1960, leitet seit dem 1. Oktober 2014 die CSV-Fraktion im Parlament. Er übernahm das Amt von Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission wurde.
Wiseler ist seit 1984 Mitglied der CSV und seit 1999 Abgeordneter. Von 2004 und bis 2013 verantwortete er mehrere Ressorts in den damaligen CSV-LSAP-Regierungen. Zuletzt war er Minister für Nachhaltige Entwicklung und Infrastrukturen. In dieser Funktion beansprucht er eine „Mitvaterschaft“ am Projekt Tram in der Hauptstadt.
Im Oktober 2016 wählte ein CSV-Parteikonvent Wiseler zum Spitzenkandidaten für die Legislativwahlen 2018. Bis 2013 war der ehemalige Sprachlehrer Regierungsrat.