Kanner-Jugend-Telefon: Die Hilfe am anderen Ende der Leitung

Kanner-Jugend-Telefon: Die Hilfe am anderen Ende der Leitung

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Die Leiterin des „Kanner- Jugend-Telefon“ (KJT), Barbara Gorges-Wagner, hält es für die Pflicht der Eltern, ihre Sprösslinge darüber zu informieren, dass es die Telefonnummer 11 61 11 gibt. An diese können sich Kinder und Jugendliche wenden, wenn sie verzweifelt sind, denn sie haben das Recht, unterstützt und gehört zu werden, egal wie klein das Problem zu sein scheint. Die Mitarbeiter des KJT sind dafür da, den Anrufern die Hoffnung zurückzugeben.

Tageblatt: Ist das KannerJugend-Telefon der erste Schritt zur Besserung oder die letzte Anlaufstelle?

Barbara Gorges-Wagner: Ich würde mir wünschen, dass jedes Kind und jeder Jugendliche diese Nummer kennen würde. Wenn jemand das Gefühl hat, allein zu sein und mit niemandem reden zu können, dann hilft das Kanner-Jugend-Telefon. Oft tut es den Kindern gut, mit einem Außenstehenden zu reden, der eine neutrale Sicht auf die Dinge hat. Mich trifft es sehr, wenn sich junge Menschen das Leben nehmen. In diesem Fall würde ein Anruf bei uns helfen. Hier sitzen ausgebildete Mitarbeiter, die den Betroffenen eine Telefonberatung anbieten und die somit dazu beitragen können, dass ein solcher Schritt verhindert wird.

Wie können Sie abschätzen, dass es an der Zeit ist, einzugreifen?

Im Kontext von Suizid gibt es bestimmte Phasen. Bei suizidalen Gedanken gibt es einen recht engen Zeitrahmen, in dem jemand akut gefährdet ist. Wenn diese Zeitspanne überbrückt werden kann, dann stehen die Chancen gut, diesen einen Schritt zu verhindern. In 25 Jahren haben wir bislang einmal aktiv eingegriffen und den Notruf verständigt. Über die Onlineberatung werden suizidgefährdete Menschen über Monate hinweg begleitet. Es wird immer wieder Kontakt zu ihnen aufgenommen. Unser größter Trumpf ist die Anonymität. Wir verstehen, dass Menschen bei uns anrufen, um zu reden, und nicht an andere Stellen verwiesen werden wollen. Sonst könnten sie ja direkt die Notrufnummer 112 wählen. Bei akuten Krisen hat das KJT einen internen Handlungsplan.

Tragen die Mitarbeiter dann nicht ziemlich viel Verantwortung?

Es ist nicht so einfach für die rund 70 freiwilligen Mitarbeiter. Manchmal müssen sie es einfach aushalten und zuhören, ohne selbst einzugreifen. Denn das ist nicht die Aufgabe des Kanner-Jugend-Telefon. Dafür gibt es andere Einrichtungen. Die Ehrenamtlichen sind überaus engagiert und tragen sich selbstständig in die Schichten ein. Jeder Anruf ist willkommen. Auch wenn mal niemand den Anruf entgegennimmt. Unsere Mitarbeiter sind da für den Anrufer und dieser bekommt so viel Zeit, wie er benötigt. Die Onlineberatung funktioniert ähnlich.

Wie schaffen es die Mitarbeiter, diese Geschichten nicht zu nah an sich heranzulassen?

Sie besuchen monatlich eine Supervisionsgruppe, in der genau diese Fälle besprochen werden können. Unsere festen Mitarbeiter stehen zudem jederzeit zur Verfügung, gerade bei größeren Krisen. Die Einrichtung bekommt recht wenig Rückmeldung darüber, wie es nach den Anrufen weitergeht. Doch die Mitarbeiter können nicht für alle die Verantwortung übernehmen. Die liegt bei den Eltern und auch bei dem Kind. Doch das KJT kann helfen, die Verantwortung zu finden. Neue Mitarbeiter verspüren anfangs öfter einen großen Druck, aktiv zu werden, doch sie müssen lernen, dass sie nicht das Leben einer anderen Person in die eigene Hand nehmen können.

Mitte Dezember haben Sie eine neue Informationskampagne mit der Comicfigur Bod gestartet. Wie kam es dazu?

Beim KJT wurde 2013 ein englischsprachiger Dienst auf den Weg gebracht. In dem Zusammenhang wurde 2017 die Comicfigur Bod ins Leben gerufen. In Bezug auf verschiedene Themen wie Mobbing, Suchtproblematik, Essstörungen und Selbstverletzung steht er im Mittelpunkt. Er soll helfen, mit den Jugendlichen über deren Gefühle und über Themen zu sprechen, die für viele schwer ansprechbar sind. Eine hilfsbereite Luxemburgerin hat eine dreidimensionale Figur daraus genäht. Zuerst saß Bod nur in einer Ecke im Büro, doch nach und nach wurde er immer mehr einbezogen. Es macht keinen Sinn, das Maskottchen einfach in die „Maison relais“ zu setzen. Deswegen wurde es in ein Fortbildungsprogramm für Erzieher eingebunden. Dort werden auch die Postkarten mit den Comics genutzt. Bod ist auch auf den neuen Plakaten und in einem Video zu sehen.

Das Kanner-Jugend-Telefon gibt es nun seit über 25 Jahren. Wie haben sich die Probleme der Kinder und Jugendlichen in den letzten zwei Jahrzehnten verändert?

Mobbing gab es schon immer. Nur die Dimensionen haben sich verändert. Es gibt kaum mehr geschützte Räume. Früher waren die Kinder wenigstens zu Hause gegen Mobbing gefeit. Heute gibt es keine Grenzen mehr. Das ist schon eine riesige Veränderung. Jugendlichen ist oft nicht klar, welche Gefahren das Internet birgt und dass ihre Bilder irgendwo wiederauftauchen können. Im Internet sehen die Jugendlichen nicht, dass sie jemanden verletzen. Doch im World Wide Web kommt das Bewusstsein für klarere Regeln immer mehr auf. Früher gab es mehr Anrufe in Bezug auf Sexualität und Verhütung, trotz der vielen Aufklärung. Darüber haben wir uns oft gewundert. Das hat abgenommen.

Welche Erfahrungen haben Sie noch gemacht?

In der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht auf Zuhören festgeschrieben. Schon zu Beginn gab es die Erkenntnis, dass Erwachsene wenig Zeit haben und den Kindern nicht wirklich ein offenes Ohr leihen können. Die Anzahl an Anrufen wegen psychosozialer Probleme hat zugenommen. Auch Einsamkeit, Alleinsein und Traurigkeit kommen immer öfter auf. Stress in der Schule oder Leistungsdruck wird ebenfalls häufig genannt. Es ist erstaunlich, wie sehr manche Kinder und Jugendliche heutzutage unter Druck stehen. Armut könnte eigentlich ein großes Thema sein, doch das kommt nur vereinzelt bei uns an. Es wird wohl oft versucht, die Fassade aufrechtzuerhalten. Aus Scham wird nicht darüber gesprochen.

Ist in Zukunft ein weiterer Ausbau der KJT-Dienste geplant?

Die Geschichte des KJT zeigt, dass mit den Jahren immer weitere Dienste hinzugekommen sind. Die meisten europäischen Helplines haben ein Chat-Angebot. Im nächsten Jahr möchte sich das KJT darauf vorbereiten und schauen, was dafür gebraucht wird. Diese Idee könnte dann 2020 umgesetzt werden. Unsere freiwilligen Mitarbeiter sind alle erwachsen. Es wäre nicht schlecht, mit Menschen zwischen 18 und 25 Jahren ein Team für ein Chat-Angebot zu bilden. Doch da benötigt es eine andere Begleitung; ein Profi muss stets dabei sein, um im Notfall ins Gespräch eingreifen zu können.

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