InterviewJosiane Weber über Großherzogin Marie Adelheid und „staatstragende Historiker“

Interview / Josiane Weber über Großherzogin Marie Adelheid und „staatstragende Historiker“
 Foto: Editpress/Claude Lenert

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Josiane Weber veröffentlichte vor kurzem eine Biografie über Marie Adelheid. Die Recherchen gestalteten sich schwierig, das Resultat lässt sich sehen: Herausgekommen ist eine kritische Biografie über eine bisher verklärte historische Persönlichkeit, die scheinbar einen gewissen Humor besaß.

Tageblatt: Sie haben als Gymnasiallehrerin in Germanistik und Geschichte gearbeitet, bevor Sie ins „Centre national de littérature“ wechselten. Währenddessen haben Sie an der Universität Trier promoviert? Wie kamen Sie auf die Idee?

Josiane Weber: Ich habe nach einer neuen Herausforderung gesucht. Mein Mann hat mir irgendwann zahlreiche Briefe von bürgerlichen Frauen aus dem 19. Jahrhundert mitgebracht. Ich habe daraus zwei Abhandlungen über das Alltagsleben im Bürgertum des 19. Jahrhunderts verfasst. Irgendwann wollte ich dann eine größere Arbeit über das Bürgertum in Luxemburg schreiben. Ich dachte, es wäre besser, diese in einem angemessenen Rahmen zu verfassen, betreut von Historikern, die sich in der Thematik auskennen. Die Universität Trier hat mich dann schließlich angenommen. Ich wollte eigentlich über das Leben der Frau und über die Kindererziehung im Bürgertum schreiben. Während einigen Kolloquien wurde das Thema eher auf die Eliten zugeschnitten. Dazu gehören die politischen und wirtschaftlichen Eliten und schlussendlich wurde die Arbeit umfangreicher als gedacht.

Das hört sich an, als hätten Sie sich eher durch Zufall mit der Geschichte wissenschaftlich auseinandergesetzt?

Es stimmt, dass ich lieber Deutsch als Geschichte unterrichtet habe. Doch meine Recherchen waren allesamt eher historischer Natur. Geschichte hat mich als Fach immer mehr interessiert als Germanistik. In den höheren Klassen wird Geschichte zudem auf Französisch gelehrt. Ich muss ehrlich zugeben, dass das, bedingt durch mein Studium in Deutschland, dann auch eine Rolle gespielt hat. Allerdings hatte ich als Deutschlehrerin mehr Zugang zu den Schülern, hatte mehr Stunden, konnte mehr mit ihnen arbeiten. Da hat man einen Vorteil, wenn man eine Sprache unterrichtet.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich mit Marie Adelheid auseinanderzusetzen?

Die Idee ist entstanden, als wir im Luxemburger Literaturarchiv (CNL) in Mersch die Ausstellung über den Ersten Weltkrieg erstellt haben. 2014 wurde diese eröffnet. Dazu haben wir auch ein Buch geschrieben, in dem ich mich allerdings noch nicht mit Marie Adelheid befasst habe. Gleichzeitig hat die Universität ein Buch über den Ersten Weltkrieg publiziert. Da habe ich mich allerdings entschieden, mich ein erstes Mal näher mit Marie Adelheid zu befassen.

Hinzu kam, dass mein Mann, Gast Mannes, zu dem Zeitpunkt Hofbibliothekar, und Hofarchivar Pierre Even zusammen mit ein paar anderen Mitarbeitern gefragt wurden, wie der Hof auf Anfragen zu Marie Adelheid reagieren sollte. Mit dem 100-jährigen Jubiläum würde die Frage bestimmt aufkommen. Mein Mann hat dann angemerkt, dass ich einen Artikel schreiben würde und dass man doch das Wenige, was an Quellen existiere, freigeben solle. Mein Mann hat mir daraufhin mitgeteilt, was es an Quellen in der Hofbibliothek gibt und Pierre Even hat mir einige Kopien aus dem Archiv zukommen lassen. Als mein Artikel dann fertig war, hat mein Mann den Artikel dem damaligen Hofmarschall vorgelegt. Der Artikel umfasste 20 Seiten, in zwei kleinen Abschnitten habe ich die Quellen des Hofes benutzt. Mein Mann, der zu dem Zeitpunkt schon im Ruhestand war und die Bibliothek nur noch als „Bénévole“ geführt hat, musste kurz danach vorstellig werden. Ihm wurde gesagt, dass diese Informationen nicht hätten herausgegeben werden dürfen.

Und der Artikel?

Ich habe den Beitrag schließlich zurückgezogen, da ich diese beiden Abschnitte nicht veröffentlichen konnte. Ich habe mir allerdings gedacht: „Jetzt erst recht!“ – und habe dann begonnen, eine wissenschaftliche Arbeit über Großherzogin Marie Adelheid zu schreiben. Dann habe ich meine Recherchen mit all den innenpolitischen Aspekten, die ich schlussendlich recht detailliert dargestellt hab, aufgenommen.

Ich habe mir allerdings gedacht: Das lasse ich mir nicht bieten

Josiane Weber, Autorin

Eigentlich wollte ich nur die fünf wichtigen Stichdaten – das Schulgesetz 1912, der Kriegsausbruch 1914, der Kaiserempfang, die Loutsch-Affäre 1915/1916 und schlussendlich die Revolution 1918/1919 – behandeln. Ich hatte schon einen Titel: Eine Tragödie in fünf Akten. Ich habe meine Recherchen also erst mal darauf konzentriert.

Nach 1916 und der Loutsch-Affäre gab es jedoch mehrere Regierungskrisen. Victor Thorn wurde Staatsminister, kurz darauf Léon Kauffman und danach Emile Reuter. Die waren jeweils nur ein Jahr an der Macht. Ich habe mir die Frage gestellt, warum das so sei. In jedem Buch stand nämlich bisher, dass sich Marie Adelheid nach 1916 aus der Politik heraushielt. Warum also die vielen Rücktritte innerhalb dieser kurzen Zeit? Warum gab es sechs Staatsminister während der Regentschaft von Marie Adelheid? Das sind sehr viele.

Da passte also was nicht zusammen …

Genau. Vorher gab es Paul Eyschen, der während einem Vierteljahrhundert Staatsminister war. Die Frequenz der Rücktritte hat mich alarmiert und ich habe mir diese Zwischenzeit etwas genauer angesehen. Diese Recherchen waren die schwierigsten. Es gibt keine persönlichen Quellen mehr aus dieser Zeit. Vorher hatten wir das Tagebuch von Dr. Welter, das von Germaine Goetzinger herausgegeben wurde, das eine sehr aussagekräftige Quelle ist. Die Frage war also, welche Quellen man dann nutzen konnte. Ich bin auf Zeitungen und Parlamentsdebatten ausgewichen, eine der wichtigsten Quellen. Im Parlament wurde nicht nur über Gesetzesprojekte beraten, da wurde die ganze schmutzige Wäsche gewaschen (schmunzelt). Zudem wurden dort Gespräche, die mit der Großherzogin geführt worden waren, wiedergegeben.

Weitere Ego-Dokumente gibt es also keine für die Zeitspanne?

Dr. Welter führte sein Tagebuch bis Mai 1916, dann hört es auf. Danach gibt es keine Ego-Dokumente mehr bis Ende 1918.

Ein Loch von zwei Jahren …

Genau, das ist ein großes Manktum. Ich hatte bei der Familie Kauffman, den Nachfahren von Staatsminister Léon Kauffman, nachgefragt. Auch die Familie Reuter hatte keine Dokumente mehr. Emile Reuter ist zudem die interessanteste politische Persönlichkeit für die ganze Zeit ab 1912.

Was fasziniert Sie an Emile Reuter?

Faszination ist das falsche Wort. Für mich ist er der Schlüsselpolitiker, um Marie Adelheid und ihre Aktionen zu verstehen. Meiner Meinung nach hatte er seit der Affäre ums Schulgesetz Zugang zu Marie Adelheid und sie lagen in ideologischer Hinsicht auf einer Wellenlänge. Ich habe dafür keine konkreten Beweise, allerdings sind die indirekten Beweise so überwältigend, dass man das so behaupten kann. Er war gläubig, genau wie Marie Adelheid, und er war Präsident des Katholischen Volksvereins, der eine wichtige Rolle hierzulande spielte. Der Katholische Volksverein stand hinter Hubert Lutsch, der zum Beispiel Mitglied in diesem Verein war.

Da laufen also viele Fäden zusammen?

Genau. Und – aber das darf man heute nicht aus einem negativen Blickwinkel sehen – der Katholische Volksverein hatte eine sozial-christliche Politik als Vorstellung. Das hat die Rechtspartei auch geprägt. Nehmen wir Pierre Dupont: Wenn man sich seine Reden in der Chamber ansieht, sprach er fast wie ein Kommunist, aber halt christlich konnotiert. Marie Adelheid wurde stark geprägt von dieser sozial-katholischen Vorstellung, repräsentiert durch Emile Reuter. Emile Reuter war deswegen wegweisend. „Dat ware ganz gescheit Leit. Déifkathoulesch, mee ganz gescheit.“ Die meisten kamen aus relativ kleinen Verhältnissen und Marie Adelheid hat diese unterstützt.

Marie Adelheid hatte was gegen die großen liberalen Familien aus dem 19. Jahrhundert; ich glaube, das kann man so formulieren. Deren Markenzeichen war ja, dass sie antiklerikal eingestellt waren. Deswegen auch die vielen Regierungskrisen. Sie weigerte sich, gewählte Politiker wie Maurice Pescatore und Robert Brasseur zu Ministern zu ernennen.

 Foto: Editpress/Claude Lenert

Marie Adelheid hat sich sehr stark in die Innen- und Außenpolitik eingemischt. Was war denn ihre politische Vision, die sie durchsetzen wollte?

Das ist eine schwierige Frage, weil ich das ja nur indirekt rekonstruieren kann. Ich denke aber, dass sich ihre politische Vision mit der Vision von einigen Politikern aus der Rechtspartei deckte. Sie wollte wohl wie ein Teil der Rechtspartei einen fundamentalistisch-katholischen Staat. Das ist vielleicht etwas stark formuliert, trifft es aber, denke ich, recht genau: Sie wollte einen Staat und eine Gesellschaft, die auf der Idee des Sozialkatholizismus basierten. Ein Indiz dafür ist ihre Unterstützung des Bischofs Koppes. Er stammte aus kleinen Verhältnissen und die alteingesessenen Familien waren entrüstet über seine Ernennung. Marie Adelheid war für das allgemeine Wahlrecht, genau wie Emile Reuter. Es gibt keine Quellen, die belegen, dass sie auch für das Frauenwahlrecht war. Sie war aber auf jeden Fall nicht dagegen. Was aber feststeht, ist, dass sie einen Staat wollte, der den Katholizismus als Fundament hat.

Viele Biografien stellen die Großherzogin gänzlich anders dar. Man ging bisher davon aus, dass Marie Adelheid sehr stark von außen beeinflusst wurde. Sie zeichnen hingegen das Bild einer jungen Frau, die sehr genau wusste, was sie wollte. Wie kommen Sie zu Ihrem Schluss?

Ja, es stimmt, dass bisher immer wieder gesagt wurde, dass Marie Adelheid nur ein armes Mädchen von 18 Jahren war, das negativ von Hof und Politkern beeinflusst wurde. Sie sollte gewissermaßen ein Spielball ihres höfischen Umfeldes, ihrer Mutter und der Rechtspartei gewesen sein. Nachdem ich jedoch alle Quellen durchgesehen hatte, dachte ich, dass das nicht stimmen kann. Schon im Jahr 1912, als Marie Adelheid sich weigerte, das Schulgesetz zu unterschreiben, haben wir eine Aussage des deutschen Botschafters, der die Familie sehr gut kannte, die besagt, dass Marie Adelheid nicht mehr auf ihre Mutter hört. Dann kann ich nicht glauben, dass ihre Mutter ihr verboten haben soll, das vorliegende Gesetz zu unterschreiben.

Es wurde auch immer gesagt, Eyschen hätte hinter dem Kaiserempfang gestanden. Fakt ist, dass beide sich zu dem Zeitpunkt nicht mehr gut verstanden. Es gibt genug Beispiele, die belegen, dass Eyschen nicht den Einfluss auf sie hatte, wie bisher dargestellt. Natürlich war er für den Kaiserempfang, das kann man nicht leugnen. Fest steht jedoch, dass sich Marie Adelheid als Deutsche fühlte, ihre Familie deutsch war und sie auch schon vorher den Kontakt zum deutschen Kaiser gesucht hat.

Das zieht sich so durch ihre politischen Entscheidungen hindurch. Dr. Welter schreibt in seinem Tagebuch, dass Marie Adelheid nach dem Motto „L’Etat, c’est moi et je sais tout“ handelte. Ich finde das sehr treffend. Natürlich hatte sie Leute um sich, die sie beeinflussten.

Der kirchliche Einfluss war dann auch nicht so groß wie bisher dargestellt?

Doch, schon, aber wie ich es in meinem Buch geschrieben habe: Von wem lässt man sich beeinflussen? Man lässt sich von dem beeinflussen, von dem man beeinflusst werden möchte. Die ganze Politik der Rechtspartei unter Emile Reuter entsprach ihren Vorstellungen. Emile Reuter war definitiv einer ihrer wichtigsten Berater, aber sie hat ihre eigenen Entscheidungen getroffen.

Cover der 600-seitigen Biografie über Großherzogin Marie Adelheid von Luxemburg
Cover der 600-seitigen Biografie über Großherzogin Marie Adelheid von Luxemburg Foto: Josiane Weber/Editions Binsfeld

Sie schreiben, es habe bisher nur „quasi-hagiografische“ Erzählungen über Marie Adelheid gegeben. Wie kommt es zu einer solchen Verklärung der Geschichte?

Das ist eine gute Frage, da muss man die anderen Historiker fragen (lacht). Diese Verklärung hat sehr früh angefangen. Über Jahre hinweg wurde in den Schulen gelehrt, dass Marie Adelheid Opfer der „bösen“ Liberalen wurde und dass sie sich später mit ihrem Rücktritt geopfert habe, um das Land zu retten. Ich denke, dieses Narrativ wurde später einfach übernommen. Ich denke, dass zwei weitere Aspekte eine Rolle spielten: Erstens war Marie Adelheid eine sehr schöne Frau. Wenn man sich die Postkarten anschaut, wusste sie sich sehr gut zu präsentieren und hat damit Sympathien im Volk gewonnen.

Ein PR-Profi ihrer Zeit …

Genau, würde ich so sagen. Wenn man sich die Fotos anschaut, kann man daraus schließen, dass sie wusste, wie man sich in Szene setzt. Das war in der damaligen Zeit vielleicht noch wichtiger als heute. Hinzu kommt der Aspekt ihres tragischen Lebens nach ihrer Abdankung. Sie lebte danach für ein Jahr in der Schweiz und wurde anschließend aus zwei Klostern entlassen. Dann kam ein mit 29 Jahren recht früher Tod, was die Leute natürlich erschütterte und berührte. Hätte sie ihre Erfüllung in einem Kloster gefunden, wäre eventuell anders über sie berichtet worden.

Es haben sich schon mehrere gestandene Historiker – unter anderem auch Gilbert Trausch – mit der historischen Figur der Marie Adelheid befasst. Keinem ist es bisher gelungen, sie so kritisch zu beleuchten. Wie ist das zu erklären?

Ich würde sagen, dass Gilbert Trausch, vor dem ich großen Respekt habe, genau wusste, was Sache war. Er hat nicht so positiv über sie geschrieben und hatte anscheinend auch eine Biografie über Marie Adelheid geplant. Gilbert Trausch hat schon „Tacheles geschwat“, was ihre Handlungen anbelangt. Er ist nie so ins Detail vorgedrungen, weil es späterhin auch nicht mehr sein Forschungsschwerpunkt war. Er war ein „staatstragender Historiker“. Auch heute wird man noch als Nestbeschmutzer angesehen, wenn man eine Biografie schreibt, die nicht durchgehend positiv ist, sondern versucht, der realen Persönlichkeit gerecht zu werden.

Ist das nicht jedoch die Rolle des Historikers? „Staatstragender Historiker“ erscheint mir schon fast wie ein Paradox in der Hinsicht.

Wenn man das so sehen will, ja. Er war halt der Historiker, der auf den großen Veranstaltungen Reden gehalten hat. Da ist es dann vielleicht nicht so einfach, kritisch zu berichten. Marie Adelheid ist bis heute ein Tabuthema für den Hof. Damals hat nicht viel gefehlt, und Luxemburg wäre zur Republik geworden.

Worin besteht dann das „aktive Desinteresse“ des Hofes heutzutage, diese Periode historisch korrekt aufzuklären?

Das verstehe ich auch nicht. Ich denke, dass dies ein Makel ist, über den die großherzogliche Familie nicht gerne redet. Da unterscheiden sie sich nicht von anderen. Keiner hört heutzutage gerne, dass ein Vorfahre zum Beispiel mit den Deutschen kollaboriert hat.

Die familiäre Verbindung nach Deutschland bestand nun mal.

Pierre Even relativiert in seiner neuen Biografie auch einige Geschehnisse, die er vorher anders dargestellt hatte. So räumt er mit den Mythen rund um den Kaiserempfang auf und hat diese  historisch korrekt dargestellt. Ich will mich nicht zum Kritiker von Pierre Even erheben. In den 200 Seiten, die er zur Verfügung hatte, kann man das nicht alles so detailreich beleuchten. Allerdings fehlt der innenpolitische Aspekt komplett – mit Ausnahme der Loutsch-Affäre –, und die einfache Aufzählung ihrer Taten wird der Person einfach nicht gerecht.

An was ist Marie Adelheid schließlich gescheitert?

Das ist eine einfach gestellte, aber schwierige Frage. Es gab innen- und außenpolitische Ursachen, wenn man es so darstellen will. Bei den Alliierten, allen voran den Engländern, hatte sie keinen guten Ruf. Den Franzosen war die Großherzogin eher gleichgültig, die Belgier haben im Hintergrund aktiv auf ihren Rücktritt hingearbeitet. Ob diese ausschlaggebend für ihren erzwungenen Rücktritt waren – und sie musste zurücktreten, das muss man so klar sagen –, sei dahingestellt. Ich glaube aber, dass die innenpolitischen Gründe wichtiger waren. Sie hat sich zu viel in die Politik eingemischt. Sie hat sich Freiheiten herausgenommen, die zwar verfassungskonform, allerdings entgegen jeglicher Tradition waren. Ein Abgeordneter hat 1918 Luxemburg als eine großherzogliche Republik bezeichnet. Und das trifft es ziemlich genau, die nassauischen Großherzöge haben sich bis dahin nicht wirklich in die Politik eingemischt. Marie Adelheid hat sich hingegen sehr stark und extrem parteiisch eingemischt. 1916 gab es Demonstrationen vor dem Palast. Als der Katholische Volksverein demonstrierte, kam die gesamte Familie auf den Balkon und winkte den Demonstranten zu. Als die Vereine des linken und liberalen Spektrums demonstrierten, zeigte sich keiner auf dem Balkon. Das ist sehr symbolisch für ihre gesamte Regentschaft.

Dann kam die Revolution noch hinzu, die ihren Rücktritt eigentlich besiegelt hat. Ich habe ja bewiesen, dass ihre Rücktrittsurkunde auf den 9. Januar 1919 rückdatiert wurde und sie eigentlich erst am 11. Januar nach den revolutionären Ereignissen zurückgetreten ist. Wenn das französische Militär nicht eingegriffen hätte, wäre die Revolution möglicherweise erfolgreich gewesen. Auch ihr langjähriger Berater Emile Reuter hatte das erkannt.

Den politischen Rückhalt aus der Rechtspartei hatte sie also auch verloren?

Ein Großteil der Rechtspartei, aber nicht alle. Deswegen wurde auch im Nachhinein behauptet, die Rechtspartei habe Marie Adelheid benutzt, um an die Macht zu kommen, um sie späterhin fallen zu lassen. Das ist allerdings zu simpel.

Damit würde ihr eigener Aktionsradius komplett eingeschränkt werden?

Ja genau.

Kommen wir kurz auf die Quellenlage zu sprechen. Der Hof verwehrte den Zugang zum Archiv …

Mir wurde er verwehrt. Pierre Even hat Zugang erhalten.

Da kann man dann wieder über den Begriff des „staatstragenden Historikers“ diskutieren. Wie kritisch sehen Sie den Umstand, dass die großherzogliche Familie, die Luxemburg nach außen repräsentiert und damit eine öffentliche Funktion hat, den Zugang zum Archiv verwehrt?

Ich will den Hof nicht anklagen, aber auch nicht verteidigen. Ich finde es erstaunlich und verstehe es von einem wissenschaftlichen Standpunkt überhaupt nicht. Das Ganze hätte durch das neue Archivgesetz geklärt werden müssen, wurde aber umgangen. Wir reden hier nicht von privaten Liebesbriefen, sondern von öffentlicher Korrespondenz. Das hätte geregelt werden müssen, wurde aber ausgeklammert, wie wir inzwischen wissen. Man kann natürlich argumentieren, dass alles privat ist.

In meinem Fall aber weiß ich, dass weder im großherzoglichen Archiv noch im öffentlichen Archiv Briefe von Marie Adelheid an irgendwelche Minister vorzufinden sind, von denen wir allerdings wissen, dass es sie gegeben hat. Ich will da keine Verschwörungstheorie aufstellen. Die Briefe sind wahrscheinlich irgendwo verloren gegangen.

Ich verstehe allerdings nicht, warum die großherzogliche Familie die Quellen heute immer noch nicht offenlegt. Als ich meine Anfrage an den Hofmarschall geschickt habe, um die Quellen benutzen zu dürfen, habe ich nicht mit einer Absage gerechnet. Ich glaube, Denis (Denis Scuto, Anm. d. Red.) und die Universität Luxemburg stehen im Austausch, um Zugang zum großherzoglichen Archiv zu erhalten. Ich denke aber, dass das Archiv langsam der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden müsste.

Noch etwas Besonderes zu Marie Adelheid, das Sie uns mitteilen wollen?

(Lacht) Ich habe jetzt so viel geredet. (Überlegt) Ich glaube, dass wir die Persönlichkeit Marie Adelheid unabhängig von ihrem politischen Schaffen nicht wirklich erfassen können, da uns dazu keine Quellen vorliegen. Außer der einen oder anderen Anekdote weiß man nicht, was für ein Mensch sie war. Aus einigen Briefen, die sie aus dem Kloster geschrieben hat und die Pierre Even in seiner Biografie thematisierte – von denen ich bis dahin auch nicht wusste, dass sie existieren –, scheint man herauslesen zu können, dass Marie Adelheid durchaus Humor hatte. Das hätte man hinter der politischen Figur nicht unbedingt vermutet.

Eine Biografie über die Persönlichkeit Marie Adelheids kann jedoch erst geschrieben werden, wenn Ego-Dokumente wie z.B. Tagebücher oder Briefe von ihr oder von ihrer nahen Umgebung gefunden werden. Dies bleibt also insofern ein Forschungsdesiderat.