Grenzerfahrungen im Ösling: Dezente Bilderflut bricht durch die Straßen von Clerf

Grenzerfahrungen im Ösling: Dezente Bilderflut bricht durch die Straßen von Clerf

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Clerf schmückt sich nicht ohne Grund seit geraumer Zeit mit dem Zusatz „Cité de l’image“. Neben der permanenten „Family of Man“-Ausstellung werden auch die Straßen und Mauern der Ortschaft mit hochaktuellen Wechselshows belebt. So trifft man zurzeit beim lokalen Flanieren unter anderem auf die Arbeiten der zeitgenössischen Fotografen Isabelle Graeff, Susan Barnett und Yvon Lambert.

Von Christian Schaack

Letztgenannter ist hierzulande eine absolute Größe. So vertreibt schon seit langem die französische Bildagentur „Vu“ einzelne Werke Lamberts. Mit Histoires de Frontières bildet Lambert vergangene oder immer noch aktuelle Grenzen an den unterschiedlichsten Orten Europas ab. Die elf vorliegenden schwarz-weißen Aufnahmen sind allesamt zwischen 1989 und 2009 entstanden und verharren trotzdem so ausdrucksstark wie am ersten Tag.

In Europa fordern derzeit jedoch radikale Populisten und extreme Nationalisten, ehemalige Grenzen wieder einzuführen. Diese beschämende Wiedergeburt bedroht uns alle mit voller Wucht. Schade nur, dass solche brandaktuellen Aspekte nicht behandelt wurden. Die sensiblen Fotos fokussieren sich eher auf empfindsame Momente, auf bewegende Situationen und zerbrechliche Umstände. Im Angesicht der Tatsache, dass dieses grenzenlose Europa so stark gefährdet ist wie nie zuvor, verharren die Werke Lamberts schlicht wie Zeitdokumente mit nostalgischer Aura. Lambert konzentriert sich vor allem auf Orte des Verschwindens. Über dem Ganzen schwebt der rückwärts gewandte Hauch einer traurigen Vergangenheit.

Ein Blick ins tiefste Innere

Anhand ihrer Arbeit Exit behandelt die deutsche Künstlerin Isabelle Graeff ihrerseits ultrasubjektive Aspekte der Thematik: Als ihr Vater 2015 unerwartet verstirbt, reist sie zu seiner Beerdigung nach England. Daraufhin erkundet sie Großbritannien für längere Zeit mit der Kamera. Durch diese besonderen Umstände wird aus diesem Sondieren eine eigene Identitätssuche. Ihre persönliche Krise trifft dabei ungewollt auf die sich anbahnende politische Krise des Brexit. Die Spaltung des Königsreiches wird dabei allegorisch interpretiert. Neben mystischer Naturschönheit und schmuckloser Urbanität dienen vergängliche Rollenspiele sowie ein nostalgisches Umsiedeln mitsamt eindringlichem Porträt als Symbolträger.

Graeff thematisiert in ihrer Serie Veränderungen, Umbrüche und eine allgemeine Vergänglichkeit. Mit äußerst feinem Gespür macht sie symbolisch hoch aufgeladene Orte aus. Sie begegnet wie von selbst kranken und verletzlichen Menschen. Ihr magnetisches Verhältnis zu Dingen wie auch zu Situationen gibt der Künstlerin die Möglichkeit, diese Umbruchphase atmosphärisch eindrucksvoll festzuhalten.

Sie erlebt die Welt durch einen vielseitigen Filter: Mal tritt das Post-Vitale hervor, mal bleibt reine Dystopie zurück, mal wird das Gebrochene betont, mal erscheinen bloße Erinnerungen. Dieser Abschied in Bildern spiegelt ihre eigene Suche nach Identität perfekt wider. Die Tatsache, dass diese Sondierung absolut parallel zum Verlauf des Brexit erfolgt, fasziniert apart. Ihr Einzelschicksal steht folglich für den bevorstehenden Umbruch innerhalb einer ganzen Nation. Die feinfühlige Kunst, politische Sensibilitäten in Bildern einzufrieren, erreicht besonders im Fotobuch „Exit“ einen absoluten Höhepunkt.

Menschliche Werbeflächen

Im Jahre 2009 rief ihrerseits die Amerikanerin Susan Barnett die Serie Not in your face ins Leben. 2015 erschien daraufhin, als eine Art Krönung, der preisgekrönte Bildband „T: A Typology of T-Shirts“. In der Tat setzt die Fotografin Gottfried Kellers Zitat „Kleider machen Leute“ auf unkonventionelle Weise um. Es handelt sich ausschließlich um anonyme Porträts aus der Rückenansicht. Alle Oberkörper sind dabei konsequent auf Taillenhöhe abgeschnitten. Dadurch rücken Silhouette, Kleidung, Körperhaltung, Frisur und Schmuckstücke systematisch in den Mittelpunkt.

Es sind jedoch vor allem die Bilder und Sprüche auf den T-Shirts, welche das Wesen des Trägers verraten. Körpersprache, Tattoos oder die Stellung der Hände tun den Rest. Hier entsteht eine soziale Studie, die den Menschen in die Werbefläche für seine Persönlichkeitsdarstellung verwandelt. Ein wahrhaftiges Identitätsbranding stachelt zum mentalen Eintauchen in die gezeigte Anonymität an. Mode, Haltung und Auftritt heizen die Vorstellungskraft der Betrachter an. Dieses Marketing der Unterschiede bündelt Gruppenzugehörigkeit, politische Ansichten, Hoffnungen und Ideale. Spannender und menschlicher kann eine Suche nach Identitäten kaum ausschauen.

Schlussfolgernd bleibt noch zu bemerken, dass alle Serien numerisch zu knapp ausfallen. Besonders die Buchpublikationen ermöglichen eine viel intensivere Auseinandersetzung mit den Themenaspekten. In der Grand-rue in Clerf verdecken zum Teil geparkte Autos die Werke, während in der Fußgängerzone gar keine Fotos aushängen. Vor Ort fehlt jegliche Beschilderung, welche die Erkundung der Bilder erleichtern würde. Zudem fristen die Werke ein recht diskretes Dasein: Monumentale Abzüge würden das Ganze aufpeppen. Man könnte einen gezielten Dialog zwischen den lokalen Monumenten (Patton-Statue, Panzer …) und passenden Fotos erschaffen und schon wäre zeitgenössischen Künstlern mit aufregenden Spielräumen gedient. Erst dann wird Identitätssuche ohne Grenze Realität.

roger wohlfart
24. Oktober 2018 - 16.50

Eine gute Idee, eine begrüssenswerte Initiative, die aber halbherzig oder stümperhaft durchgeführt wurde. Wieso keine Fotos in der Fussgängerzone? Etwa aus Angst ein Passant könnte sie übersehen und hineinknallen? Schilda lässt grüssen!