Finanzkrise 2008: Über Fortis bricht das Dach zusammen

Finanzkrise 2008: Über Fortis bricht das Dach zusammen

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(Teil 2) Vor genau zehn Jahren, am Freitag, 26. September 2008, spitzt sich die Lage zu. Von allen Seiten steigt der Druck auf die Fortis-Gruppe. Den politischen Entscheidern wird klar: Wenn nichts passiert, dann geht dem Finanzinstitut am Montagmorgen das Geld aus. Ein Wochenende haben die belgische, luxemburgische und niederländische Regierung nun Zeit, um eine Lösung zu finden. Bevor die Schalterbanken ihre Tore wieder öffnen.

Freitag, 26. September 2008: An den Märkten herrscht Panik. Vor zehn Tagen war die US-Investmentbank zusammengebrochen. Mit jedem neuen kleinen Gerücht purzeln die Aktienkurse der Banken weiter nach unten. Besonders im Fokus steht an diesem Montag das größte belgische Finanzinstitut, die Fortis. Quasi im Minutentakt geht es nach unten.

Fortis fehlt es bereits seit geraumer Zeit an liquiden Mitteln, an verfügbarem Geld. Unter anderem gilt es, eine Rechnung über 24 Milliarden Euro für die Übernahme der ABN Amro zu begleichen. Die an den Märkten zur Verfügung stehenden Mittel (Kredite von anderen Banken) aber versiegen zusehends. Täglich wird das Loch bei Fortis größer. Derweil werden auch die Aktionäre von Fortis immer unglücklicher. Ihre Dividende wurde bereits gestrichen und nun müssen sie zuschauen, wie ihr Investment unaufhaltsam weiter schrumpft.

Ende September 2008, vor genau zehn Jahren, passierte das Undenkbare: Die ein Jahr zuvor in den USA ausgebrochene Finanzkrise schlug mit voller Wucht in Luxemburg ein.

In der Serie „Die Banken im Sturm“ will das Tageblatt daran erinnern, was sich im Herbst 2008 in Luxemburg abgespielt hat. Als Quellen für die Artikel der Serie dienen Gespräche mit zahlreichen Zeitzeugen sowie Zeitungsartikel und Geschäftsberichte von damals.

„Die Banken im Sturm“ erscheint täglich im Tageblatt und auf Tageblatt.lu.

Nervosität

Die allgemeine Nervosität hat seit Donnerstag auch Fortis-Kunden in Luxemburg, Belgien und den Niederlanden angesteckt. Mancherorts stürmen sie in Bankfilialen, wollen ihr Erspartes abheben und zu einer „sicheren“ Bank bringen. Viel höhere Summen zogen derweil die institutionellen Kunden (Firmen, Organisationen, Professionelle) von Fortis ab. Ihr Vermögen ist nicht durch die Einlagensicherungsgarantie gesichert.

In Belgien schalten sich die Behörden ein. Sie wollen wissen, wie Fortis die Spareinlagen des Landes absichert. Sie wollen wissen, wie die wichtigste Bank des Landes die Unternehmen und die Einwohner mit Krediten versorgen will. Für Belgien steht viel auf dem Spiel, es geht um seine größte Bank. Mit den Teilen der ABN Amro war Fortis dabei, zur fünftgrößten Bank der Eurozone mit rund 80.000 Mitarbeitern aufzusteigen. Aber zufriedenstellende Antworten gibt es für die Behörden an diesem Freitag nicht.

Am Montag wird Fortis 25 bis 30 Milliarden benötigen – oder insolvent sein. Belgiens Zentralbank könnte das Geld theoretisch als Notkredit bereitstellen. Dann müsste der Staat im Zweifelsfall aber für Verluste aufkommen. Das will die Regierung des bereits hoch verschuldeten Landes aber nicht riskieren – einen Zusammenbruch der Wirtschaft Belgiens jedoch auch nicht. Bis Montagmorgen muss eine Lösung gefunden sein. Die belgische Regierung startet mit der Suche nach einer größeren Bank, die Fortis übernehmen und so wieder für Ruhe sorgen kann.

Erste Kontakte

Auch in Luxemburg gibt es an dem Freitag erste Kontakte zwischen Fortis Luxembourg (ehemalige BGL) und der Regierung. „Ich erinnere mich noch genau“, erzählte der damalige Finanzminister Luc Frieden vor rund zwei Wochen im Interview mit dem Lëtzebuerger Journal. „Am 26. September mittags war klar, dass es eine echte Krise ist. Damals wurde ich darüber informiert, dass es größere Probleme bei Fortis gäbe. (…) Dass es in Luxemburg zur Krise kommen würde, wurde mir erst in dem Moment richtig klar.“

Und die Lage ist brenzlig. Sollte die Fortis-Gruppe umfallen, dann würde Fortis Luxembourg mit fallen. Die Luxemburger Bank war seit 1999 Teil der Fortis-Gruppe. Und die Liquidität der gesamten Gruppe wurde seit einigen Jahren zentral von Brüssel aus verwaltet. Den Namen Fortis trägt die ehemalige BGL seit 2005.

Dann geht es Schlag auf Schlag. „Am Samstagnachmittag traf Carlo Thill (Geschäftsführer der Bank) im Staatsministerium ein“, erinnert sich Jean-Lou Siweck, der damals Wirtschaftsberater bei Jean-Claude Juncker war. Neben weiteren Vertretern von Fortis Luxembourg sind auch Premierminister Jean-Claude Juncker, Finanzminister Luc Frieden und Wirtschaftsminister Jeannot Krecké sowie mehrere hohe Staatsbeamte bei dem Treffen mit dabei.

„Wir machen das“

Rasch wird entschieden, die BGL zu retten. „Am Samstagnachmittag traf Premierminister Jean-Claude Juncker dann die prinzipielle Entscheidung“, so Siweck weiter. „‚Wir machen das‘, sagte er. Da kann ich mich noch bildlich daran erinnern.“ Gegen ein Eingreifen des Staates hatte sich niemand ausgesprochen.

Wie diese Unterstützung aussehen soll, bleibt vorerst noch unklar. Auch für eine eingehende Bewertung der Bank war bisher keine Zeit. Eine Kapitalerhöhung wäre nur mit einer Aktionärsversammlung möglich gewesen. Während weiterer Krisentreffen zwischen hohen Staatsbeamten und Vertretern von Fortis Luxembourg kommt im Laufe des Tages die Idee einer Wandelanleihe (ein Kredit, der später in Aktien umgewandelt werden kann) auf. So gab es eine technische Lösung, um Geld bereitzustellen, ohne aber einen Preis für die Bank festzulegen.

Gerade für diesen Samstagabend hat Fortis Luxembourg eine Personalfeier geplant. „Die Gespräche mussten unterbrochen werden“, erinnert sich Jean-Lou Siweck. Rund 2.000 Mitarbeiter hoffen auf klare Aussagen von Geschäftsführer Carlo Thill. Sie werden enttäuscht. Er versucht, die Gemüter zu beruhigen. Er darf aber nichts Konkretes sagen. Alles muss vertraulich bleiben. Erst muss auf Entscheidungen aus Brüssel gewartet werden. Immerhin war Fortis Luxembourg Teil der Fortis-Gruppe.

„Eigentlich hatte man damals keine Lust zu feiern“, erinnert sich Gabriel di Letizia, der als Personalvertreter im Verwaltungsrat der Luxemburger Bank vertreten war, an die Feier von vor zehn Jahren. Über den europäischen Betriebsrat sei er bereits informiert worden. „Das ist schon eine komische Situation: Man weiß, was passieren kann – man weiß aber nicht, wo es hingeht.“ Das sei alles ziemlich „unvorstellbar“ gewesen.

Gleichzeitig werden in Brüssel an diesem Wochenende (27./28. September 2008) internationale Krisensitzungen organisiert. Diese finden im Büro des belgischen Premierministers statt. Mit dabei: Vertreter von Fortis, von Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. „Geschlafen hat man in der Zeit nur wenig“, erinnert sich Jean Guill. Als Schatzmeister im Finanzministerium war er damals bei den Treffen zu allen fünf Bank-Pleiten, die Luxemburg im Rahmen der Finanzkrise von 2008 zu managen hatte, zugegen.


Die Krisentreffen

Die Probleme wurden auch auf den höchsten politischen Ebenen behandelt.
Über die Fortis wurde in Brüssel mit dem belgischen Finanz- und dem belgischen Premierminister verhandelt – und über die Dexia in Paris mit Finanzministerin Christine Lagarde.

Auf der Luxemburger Seite waren in erster Linie, je nachdem, um welches Treffen es sich handelte, Premierminister Jean-Claude Juncker, Finanzminister Luc Frieden und Wirtschaftsminister Jeannot Krecké beteiligt. „Politisch gesehen war es wichtig, dass die Koalitionsregierung insgesamt vertreten war, denn die Rettungsaktionen mussten vom Parlament durch Gesetz gutgeheißen werden, etwa als der Staat einen Kredit aufnehmen musste, um bei der BGL einzusteigen“, so der damalige Schatzmeister Jean Guill, der 2008 bei den Treffen zu allen fünf Bank-Pleiten in Luxemburg mit dabei war. Auch anwesend waren u.a. die hohen Staatsbeamten Gaston Reinesch und Georges Heinrich.


Fortis-Gruppe

Offizielles Ziel der Treffen in Brüssel war eine Rekapitalisierung der Fortis-Gruppe. Ursprünglich hoffte sie, Luxemburg würde in das Kapital der Fortis-Gruppe einsteigen. Das Großherzogtum wollte jedoch vor allem sicherstellen, dass die BGL nicht im Fortis-Sumpf versinkt. An der Fortis-Gruppe als solche hatte das Land nur wenig Interesse. „Sowohl die BIL als auch die BGL waren in einem annehmbaren Zustand“, so der spätere Aufseher der Finanzbranche Jean Guill. „Die Gruppen waren es nicht – daher wollten wir die guten Teile herauslösen. Die sollten weiterleben.“ Allein der Fakt, dass BNP Paribas bereit war, die BGL zu kaufen, zeige, dass die Probleme nicht aus Luxemburg kamen.

„Am ersten Wochenende haben wir uns damals ganz Fortis angeschaut. (…) Luxemburg war einfach ein Teil des Ganzen.“

Pol-Henry Bonte, bei BNP Paribas für den Bereich „Mergers and Acquisitions“ zuständig

Etwas anders drückt es der damals für die BNP Paribas tätige Pol-Henry Bonte aus: „Luxemburg wollte sicherstellen, dass der belgische Staat nicht Hauptaktionär von einer der wichtigsten Luxemburger Banken wird.“ Immerhin gab es damals noch ein Bankgeheimnis und keinen automatischen Informationsaustausch, gibt er zu bedenken.

Bei den Verhandlungen in Brüssel ging es heiß her. Sowohl BNP Paribas als auch die ING hatten Angebote zur Übernahme der Fortis abgegeben. Auch die Deutsche Bank soll Interesse an einigen Teilen der Finanzgruppe geäußert haben.

„Am ersten Wochenende haben wir uns ganz Fortis angeschaut“, erinnert sich Pol-Henry Bonte an die Tage von vor zehn Jahren. Er war damals bei der BNP Paribas in Brüssel zuständig für den Bereich „Mergers and Acquisitions“ (Zusammenschlüsse, Fusionen und Übernahmen) in Belgien und Luxemburg. BNP Paribas war mit kompletten Teams nach Belgien gekommen. „Fortis verfügte über ein Netz von Schalterbanken in mehreren Ländern (Belgien, Niederlande, Türkei, Polen, Luxemburg …). Das war schon interessant für BNP Paribas. Das ergab Sinn. Auch das Versicherungsgeschäft von Fortis sowie die Vermögensverwaltung waren interessant für uns – es gab mögliche Synergien.“ Luxemburg sei dabei „einfach ein Teil des Ganzen“ gewesen.

Als BNP Paribas mitten in der Krise ein großes Finanzinstitut wie Fortis übernehmen wollte, kannte sie das Institut zudem bereits, erklärt Bonte gegenüber dem Tageblatt. „In der Zeit vor der Krise hatten praktisch alle Banken miteinander geredet und alle denkbaren Möglichkeiten durchgespielt. BNP Paribas und die Fortis-Gruppe hatten sich in den Jahren zuvor gegenseitig näher angeschaut. Ohne Ergebnis.“ Auch an diesem Wochenende wurde sich für kein Angebot – auch nicht für das der BNP Paribas – entschieden. Bis Sonntagabend hatten sich die drei Länder dann doch mit der Fortis-Gruppe auf ein Abkommen geeinigt. „Meine Chefs fuhren nach Paris zurück. Ich ging nach Hause“, erinnert sich Bonte.

Kapitalerhöhungen

Das Resultat der Verhandlungen aus Brüssel: Das Kapital der nationalen Fortis-Banken soll aufgestockt werden. Insgesamt 11,2 Milliarden an neuem Kapital sollen die Filialen der Gruppe von Belgien, Luxemburg und den Niederlanden erhalten. Dafür bekommt jedes Land 49,9 Prozent der Anteile an „ihrer“ Fortis-Bank. ABN Amro wird wieder verkauft.

In Luxemburg trafen sich Vertreter von Fortis Luxembourg und der Regierung am Sonntagmorgen erneut im Staatsministerium. Das Mittagessen wurde beim Italiener um die Ecke bestellt. Am Ende des Tages sah das Verhandlungsresultat so aus: Das Land bietet Fortis Luxembourg einen Kredit über 2,5 Milliarden Euro in Form einer Wandelanleihe. Der Staat erhält 10 Prozent Zinsen auf diesem Kredit, der innerhalb von spätestens drei Jahren in 49,9 Prozent der Aktienanteile von Fortis Luxembourg umgewandelt werden muss.
Für symbolischen Euro

„Luxemburg wollte sicherstellen, dass der belgische Staat nicht Hauptaktionär von einer der wichtigsten Luxemburger Banken wird“

Pol-Henry Bonte, bei BNP Paribas für den Bereich „Mergers and Acquisitions“ zuständig

Dies entsprach nicht unbedingt den Vorstellungen der Fortis-Gruppe in Brüssel. Deren erster Entwurf für einen Notkredit sah noch vor, dass die Gruppe den Staat zu jedem Moment wieder aus der Bank rauskaufen könnte, erzählt Siweck heute. Auch in Sachen Kommunikation war die Zeitenwende noch nicht bei Fortis angekommen. In einem ersten Entwurf einer Pressemitteilung aus Brüssel wurde noch versucht, die Aktionäre zu beruhigen – anstelle der Kunden.

Doch auch innerhalb Luxemburgs gingen die Verhandler lieber auf Nummer sicher. Fortis Luxembourg erhielt zwar einen Milliardenkredit vom Staat, musste im Gegenzug aber auch Bedingungen erfüllen. Dazu zählte unter anderem der Verkauf jener Aktienanteile an den Traditionsunternehmen Paul Wurth und Bourse de Luxembourg, die sich im Besitz von Fortis Luxembourg befanden, an den Staat – und das für nur einen symbolischen Euro.

Da sich die Verhandlungen in die Länge zogen, wurde am Sonntagabend erneut bei Bacchus, dem italienischen Restaurant aus der Nähe, bestellt, diesmal Pizza. Sauberes Geschirr soll es jedoch am Sonntagabend im ganzen Ministerium keines mehr gegeben haben.

Sonntagabend

Am 28. September um 23.15 Uhr trafen sich die Mitglieder des Verwaltungsrates von Fortis Luxembourg dann zu einer telefonischen Verwaltungsratssitzung. Nachdem Carlo Thill ihnen den Plan der Benelux-Staaten erläutert hatte, so ist es im Jahresbericht 2008 der BGL nachzulesen, stimmte der Verwaltungsrat dem Vorhaben einstimmig zu.

Die Rettung der Fortis-Gruppe war erfolgreich abgeschlossen, der Montag konnte kommen – oder so glaubte man zumindest. Noch in der Nacht zum Montag wurde die Rettung vor der Presse angekündigt: Drei Staaten stützen das in eine Schieflage geratene Finanzinstitut. Eine starke symbolische Aktion. Die Sparguthaben der Kunden waren gerettet. Unterzeichnet wurde das Abkommen im Laufe des folgenden Montags.


Die 2,5-Milliarden-Anleihe

Obwohl die Krise in den Monaten September/Oktober stattfand, sind die 2,5 Milliarden Euro zur Rettung der BGL erst Ende Dezember wirklich geflossen, so Jean Guill gegenüber dem Tageblatt.

„Wichtig ist nur, das Geld anzukündigen. Die technische Abwicklung hat dann in geordneten Schritten zu erfolgen.“ Um den Kauf der Anteile an der BGL zu finanzieren, musste der Luxemburger Staat neue Schulden aufnehmen.

Die diesbezügliche Staatsanleihe in Höhe von zwei Milliarden Euro war die größte Anleihe, die das Großherzogtum jemals in der Geschichte herausgegeben hat. Als diese Anleihe zurückbezahlt werden musste, wurde sie durch neue Anleihen ersetzt. Seit der Finanzkrise liegt der (immer noch vergleichsweise niedrige) Schuldenstand des Luxemburger Staates somit deutlich über dem Stand von vorher. Im Gegenzug hat der Staat, mit den Anteilen an der BNP Paribas und an der BGL, heute mehr Kapital in den Büchern stehen.


Neuer Hilferuf

Und hier hätte die Geschichte enden können. Das tat sie aber nicht. Mehrere Faktoren, darunter das nicht zurückkehrende Vertrauen der Märkte und eine dramatische Kehrtwende der niederländischen Regierung, beließen Fortis – und somit auch Fortis Luxembourg – in der Krise. Eine zweite Rettungsaktion wurde unumgänglich. Mehr dazu morgen in dieser Serie.

Für die Beteiligten von damals war die Lage viel undurchsichtiger. Im Laufe des Sonntagabends platzte so ein Telefonanruf in die Verhandlungen mit Fortis: Frank Wagener, Geschäftsführer der Dexia BIL, rief Finanzminister Luc Frieden an, nachdem sein Mutterhaus aus Brüssel ihm gerade mitgeteilt hatte, Dexia benötige fünf Milliarden Euro von Luxemburg. In Wirklichkeit mussten die Behörden in Belgien und Luxemburg nun erst einmal die Dexia retten, ehe sie sich wieder der Fortis widmen konnten.


„Ich habe ein ernsthaftes Problem“

Carlo Thill hat 40 Jahre für die BGL gearbeitet. 1998 wurde er Mitglied im Direktionskomitee. Von 2005 bis 2018 war er Geschäfts- führer von Fortis Luxembourg – und danach von BGL BNP Paribas. Kurz vor seinem Eintritt in die Rente hat er mit dem Tageblatt über die wohl schwierigsten Tage seiner Karriere gesprochen.

Tageblatt: Wie überlebt man eine solche Woche? Den Stress, die Verantwortung gegenüber von Kunden und Mitarbeitern?

Carlo Thill: Es bedeutet viel Stress, viele Treffen mit vielen Leuten und wenig Schlaf. Manche Reden (wie etwa die für die Personalfeier) müssen mitten in der Nacht umgeschrieben werden. Der Überlebensinstinkt kommt zum Vorschein. Das Adrenalin fließt. Viel Energie baut sich auf. Plötzlich war kein Schlaf mehr notwendig. Man braucht ihn wohl, hat aber keine Zeit mehr zum Schlafen. Es galt nur noch, die Krise zu managen.
Normalerweise habe ich es geschafft, den Arbeitsstress von der Familie fernzuhalten. Das war diese Woche aber nicht möglich. Der Stress hat auf das Privatleben abgefärbt. In der Regel bin ich ein Mensch, der auf Konsens setzt. Nun aber mussten schnell wichtige Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Und bei alledem war man zumeist auch noch auf sich allein gestellt. Es war mir gar nicht bewusst, dass ich diese Kompetenzen überhaupt hatte. Es war alles schon sehr speziell.

Hatten Sie in dem Moment an eine Kündigung gedacht?

Während dieser Periode nicht. Es ist nicht meine Natur, einfach zu gehen, wenn es schwierig wird. Später aber … Wir waren da in etwas hineingeschlittert. Dabei lagen die Verfehlungen nicht bei Fortis Luxembourg, sondern beim Mutterhaus. Als Führungskraft muss man trotzdem zu dem stehen, was passiert ist. Nicht schuldig, aber verantwortlich.
Nach der Krise also hatte ich der Luxemburger Regierung (die mittlerweile wichtigster Aktionär war, Anm. d. Red.) meine Kündigung angeboten. Aber sowohl die Regierung als auch – und das ist mir noch viel wichtiger – die Mitarbeiter (über die Personaldelegation) wollten, dass ich bleibe. Das, glaube ich, war ein Höhepunkt meiner Karriere, meines Lebens.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erstmals in den Nachrichten hörten, Fortis habe Liquiditätsprobleme?

Fortis hatte die Finanzierung der Übernahme der niederländischen Großbank ABN Amro zu stemmen. Innerhalb der Firma gab es aber nie das Gefühl, dass es ein Problem geben könnte. Unsere Ratios in Luxemburg waren ja gut. Erst als sich lange Menschenschlangen vor den Bankschaltern in Belgien bildeten, kippte intern die Stimmung. Ganz so schlimm wurde es in Luxemburg zwar nicht – aber auch hier wurden viele Menschen nervös und wollten Geld umherschieben.

„Wenn das Mutterhaus Schnupfen hat, dann haben auch die Kinder Schnupfen“

Wir gaben immer einfach das weiter, was man uns sagte: Es gibt keine Probleme. Und in Luxemburg gab es ja tatsächlich reell keine Probleme. Die Ratios waren super, Liquidität war vorhanden. Doch heute wissen wir: Wenn das Mutterhaus Schnupfen hat, dann haben auch die Kinder Schnupfen.

Waren Sie sich immer sicher, dass die Bank die Krise überstehen würde?

Bereits von Samstagabend an, nach dem Gespräch mit der Regierung (Jean-Claude Juncker, Luc Frieden, Jeannot Krecké) und einigen hohen Staatsbeamten, wusste ich, dass die Regierung die Bank irgendwie unterstützen würde.

Das „Wie“ jedoch war noch nicht klar. Darum drehten sich die Verhandlungen. Fortis wollte die Fortis-Gruppe retten. Dazu brauchen wir so viel Euro, hieß es. Die nationalen Regierungen jedoch waren eher darauf bedacht, ihre lokalen Banken zu retten und nicht die belgische Holding.

Auch über die Geldsumme waren wir uns schnell einig. Am Samstagabend auf der berüchtigten Personalfeier konnte ich aber nur das sagen, was öffentlich bekannt war. Jede Aussage hätte am Montagmorgen starke Bewegungen an den Aktienmärkten auslösen können. Das war ein Dilemma aus der Zeit. Da ich aber wusste, dass es gut ausgehen würde, sagte ich nur: Die Spareinlagen sind sicher. Und das war ja dann auch so.

Was denkt ein Banker, wenn ein Bank Run beginnt, wenn viele Kunden ihre Gelder schnell abheben wollen?

Ich habe ein ernsthaftes Problem. Die Ratios waren damals zwar gut, aber es gab nicht wirklich genügend direkt verfügbare Liquidität. Heute sind die Regeln anders und es wird anders mit Liquidität gearbeitet. Es wird nicht mehr nur auf Ratios geschaut.
Es müssen für Stresssituationen wie Bank Runs (auch wenn sie Monate andauern und der Mittelabfluss massiv ist) immer genügend liquide Mittel da sein. Das war damals nicht so. Es waren zwar Mittel da, aber sie waren nicht wirklich liquide genug.

Hatten Sie selbst der Fortis (BGL) weiter vertraut und Ihr eigenes Geld dort behalten?
Sicher, ja. Ich hatte nicht einmal Zeit, um an mein eigenes Geld zu denken. Alles andere wäre in dieser Stresssituation katastrophal gewesen. Wenn ein Firmenchef das machen würde …

Wie fühlt es sich an, wenn man als Banker beim Staat um Geld betteln muss? Oder wenn er Luxemburger Beteiligungen (wie etwa an der Börse) verkaufen muss?

Das sind Nebeneffekte von Verhandlungen. Der Staat war damals „lender of last resort“. Da muss man Kompromisse eingehen. Das ist nun mal so.
Ich verstehe auch den Staat, der sicherstellen wollte, dass Unternehmensbeteiligungen (Luxemburger Börse, Paul Wurth) in der „Luxembourg Inc.“ bleiben. Jedenfalls hat der Staat ein gutes Geschäft gemacht. Wenn er heute verkaufen würde, würde er einen guten Schnitt machen.

Welche weiteren Lehren haben Sie und Ihre Bank aus der Finanz- und Schuldenkrise gezogen?

Es muss genügend Liquidität für einige Monate vorhanden sein. Doch persönlich sage ich mir noch: Wenn das System wackelt, dann ist niemand mehr sicher – wirklich niemand. Die Lehren, die die Politik und die Regulierer aus der Krise gezogen haben, sind die gleichen wie die meinen: Das System muss bestmöglich gegen jegliche Ansteckungsgefahren absichert werden.

Auch kann man solche Aktionen nicht dauernd vom Staat finanzieren lassen, sogar wenn es langfristig eine gute Affäre für die Staatsfinanzen ist. Der Steuerzahler kann nicht dauernd für Fehler, die in der globalen Finanzindustrie passiert sind, zur Kasse gebeten werden. Neue EU-Regeln sollen künftig verhindern, dass der Steuerzahler bezahlt. Wobei es zu bemerken gilt, dass der Staat, falls eine systemisch wichtige Bank in Schwierigkeiten gerät, wohl nicht an einem Eingreifen vorbeikommt.

Wie hatten Sie die FortisEpisode erlebt? Sind Sie heute froh, kein Teil einer Fortis-Gruppe mehr zu sein?

Ich bedauere die Krise, die letzten Fortis-Jahre. Ich sage aber nicht, dass Fortis schlecht war. Sicherlich hätte ich lieber die BGL behalten, aber ich bereue es nicht. Ich bin lieber ein kleiner Teil einer großen Gruppe als groß ohne Gruppe. Das erhöht die Überlebenschancen im Falle einer Krise. Man sieht es ja immer wieder: Kleine Banken gehen in Konkurs, große systemische Banken jedoch werden gerettet.

Es ist ein Vorteil, systemisch zu sein. Es bedeutet zwar mehr Aufwand und höhere Kosten für die Kontrolle – doch es gibt auch Sicherheit. In den USA war es übrigens ein Fehler, Lehman pleitegehen zu lassen. Das hatte dem Vertrauen in den ganzen Sektor geschadet.
Im Endeffekt hat der Luxemburger Staat ein Prozent an der BNP Paribas gekauft, um die BGL zu retten. Bis heute ist diese Operation ein Verlustgeschäft für den Staat. Der Aktienkurs ist immer noch niedriger als damals …

Da will und kann ich nichts zu sagen. Das ist eine Frage für den Staat. Ich betone aber, dass der Luxemburger Staat jedes Jahr interessante Dividenden von BGL und BNP Paribas erhalten hat. Das war jedes Jahr deutlich mehr als die Höhe der Zinsen, die der Staat für das Geld zahlt.

Ich glaube, der Luxemburger Steuerzahler kann sich – zumindest bisher – nicht beklagen. Ich bin überzeugt davon, dass der Staat, wenn er die Anteile irgendwann verkauft, bestimmt einen Gewinn machen wird.

Haben Sie Verständnis für den Durchschnittsbürger, der sieht, dass öffentliche Gelder in Finanzinstitute gepumpt werden – doch niemand wird zur Rechenschaft gezogen?

Hierzu muss bemerkt werden, dass auch bei der Stahlkrise niemand zur Rechenschaft gezogen wurde. Aber das liegt am Gefühl, dass eine Industrie näher am Bürger ist als eine BIL, eine BCEE oder eine BGL.

Zudem muss man bedenken, dass die Banken im Dienste der Wirtschaft stehen. Ohne sie würde nichts funktionieren. Hunderttausende Menschen hätten keine Wohnung. Eine Bank hilft Menschen und Firmen, ihre Zukunftspläne zu erfüllen. Dafür sind und waren Banken immer da – auch wenn es Exzesse gab. Man muss auch das Positive an den Banken sehen.

Ich glaube aber, dass das Bild der Banken in Luxemburg noch besser ist als anderswo. Die Menschen hier wissen schon, was die Banken für ihren Wohlstand bedeuten. Der Sektor trägt weiterhin viel zum Reichtum des Landes bei. Und man muss nicht immer in seine Suppe spucken, um das mal so auszudrücken.


Lesen Sie hier Teil 1 unserer Serie: 

Ein gewaltiges Beben kündigt sich an

 

Lesen Sie hier Teil 2 unserer Serie: 

Über Fortis bricht das Dach zusammen

 

Lesen Sie hier Teil 3 unserer Serie: 

Volles Risiko bei der Fortis-Rettung