Familienrichterin Alexandra Huberty im Interview: „Es gibt Drittweltländer, die weiter waren als wir“

Familienrichterin Alexandra Huberty im Interview: „Es gibt Drittweltländer, die weiter waren als wir“

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Das Scheidungs- und Familienrecht in Luxemburg wurde mit der im Juni verabschiedeten Reform grundlegend umstrukturiert. Mit dem neuen Gesetz wurden unter anderem neue Posten in der Justiz geschaffen: 14 Familienrichter werden am Gericht in Luxemburg-Stadt tätig sein, drei in Diekirch. Wir haben uns mit Richterin Alexandra Huberty über ihre neue Aufgabe, die Notwendigkeit der Gesetzesreform und deren weitreichende Konsequenzen unterhalten.

Tageblatt: Mit dem neuen Scheidungsgesetz wurden die Posten der „Juge aux affaires familiales“ neu geschaffen. Sie sind eine der 14 Richter, die diese neue Rolle übernehmen sollen. Was genau sind Ihre Aufgaben?
Alexandra Huberty: Im Grunde werden wir alles übernehmen, was im Familienrecht bisher auf Gerichte aufgeteilt wurde.

Nur die Verfahren der „Filiation“ (zu Deutsch: „Abstammungsklärung“) und die Adoption werden weiterhin über das Tribunal laufen. Alle anderen Bereiche des Familienrechts werden zusammengefasst und vom Familienrichter betreut.

Welche Attribute müssen die neuen Familienrichter mitbringen?
A priori keine, wir fangen ja neu an und werden uns selbst formieren. Die drei erfahrensten Richter haben alle schon im Familienrecht gearbeitet. Auch einige andere bringen Erfahrung im Bereich Familienrecht mit, doch viele haben bisher noch nicht in dieser Domäne gearbeitet. Intern werden wir uns nun aber zusammensetzen und eine Weiterbildung ausarbeiten. Wir werden auch an Weiterbildungen aus dem Sektor teilnehmen. Nicht nur juristische Seminare, sondern auch Ausbildungen zum Thema Entwicklung von Kindern, elterliche Entfremdung usw.

Der Familienrichter sollte sich also nicht nur mit dem Gesetz auskennen.
Als Familienrichter ist das Gesetz das Einfachste. Wenn man aber nur mit Gesetzeskenntnissen an unsere Arbeit herangeht, ist die Chance auf die Vermittlung einer gemeinsamen Lösung zweier Parteien sehr viel kleiner. Die Scheidung etwa, der extremste Fall, mit dem wir hier zu tun haben, ist für die Betroffenen ein harter Moment. Es ist ein Versagen, das man verarbeiten muss, und eine Situation, die höchsten Stress für die Eltern, die Kinder, die Familie und sogar die Bekannten und Freunde bedeutet. Das Beste in einer solchen Situation ist, als Richter den Weg zur Scheidung gemeinsam mit den Betroffenen zu gehen, dafür braucht es natürlich Verständnis für die Situation, in der sie sich befinden.

Zu Empathie fähig sein ist also wichtig für Familienrichter.
Ja. Wir funktionieren als Scheidungskammer schon seit Jahren so. Man kann ganz leicht ein Urteil schreiben, wer wie viel für die Kinder zahlen muss – das ist eine reine Rechnung: Wie viel verdient jeder, wie viel muss jeder an Schulden zurückzahlen … Da braucht man keine Empathie. Aber diese Entscheidungen sind nur die Spitze des Eisbergs, für alles andere muss man die Leute verstehen.

Ab dem 1. November 2018 sollen Sie offiziell Ihre neue Funktion als Familienrichterin übernehmen.
Das heißt aber nicht, dass das bisherige Verfahren jetzt abrupt aufhört. Alle alten Dossiers müssen wir natürlich erst mal aufarbeiten. Wir haben bisher schon gut gearbeitet und viele Fälle, die sich über die Jahre angesammelt haben, schließen können, aber ich kann jetzt schon garantieren, dass wir am 1. November 2018 noch alte Dossiers haben werden. Wir werden ab dann also zweispurig arbeiten: im alten Gesetzesrahmen für die alten Fälle und mit dem neuen Scheidungsgesetz für die neuen Fälle. Und das, bis alle alten Dossiers abgearbeitet wurden.

Wie bereiten Sie sich auf den 1. November 2018 vor?
Wie die Zweispurigkeit der Verfahren organisiert werden soll, ist schnell ausgearbeitet. Über den Sommer werden wir uns erst mal ins neue Gesetz einarbeiten. Wir werden uns dann mit den drei neuen Familienrichtern aus Diekirch zusammensetzen und das neue Verfahren gemeinsam ausarbeiten. Es muss ja nicht jeder für sich die Welt neu erfinden. Ab dem 15. September werden wir uns auch intern mit einigen Versammlungen vorbereiten, damit wir im November bereit sind.

Außerdem: Auch wenn das neue Verfahren am 2. November 2018 eingeführt wird, heißt das nicht, dass die sich scheidenden Partner ab dem Datum bei uns Schlange stehen werden. Die Scheidungen müssen ja erst mal eingereicht werden, dann müssen wir die Betroffenen vorladen. Es dauert also zwei bis drei Wochen, ehe man den ersten Termin hat.

Bei mehr als 1.000 Scheidungen im Jahr und vielen weiteren Aufgaben, die Sie als Familienrichterin übernehmen sollen, kommt viel Arbeit auf Sie zu. Können 14 Familienrichter das stemmen?
Ich hatte mich im Vorfeld informiert und mich bei einer Richterkonferenz in Deutschland mit einem Kollegen aus Mannheim unterhalten. Mannheim hat eine ähnliche Einwohnerzahl wie Luxemburg, und sie kommen mit acht Familienrichter aus. Da das deutsche Gesetz sich aber von unserem unterscheidet, wusste ich, dass wir etwas mehr Personen brauchen. Ich rechnete damit, dass wir Minimum zwölf Posten schaffen müssten. Die Regierung hat uns nun 14 gegeben. Dann liegt es nicht an uns, jetzt schon im Voraus zu sagen, das reicht nicht. Es hängt natürlich auch an uns, wie gut und effizient wir arbeiten. Dann reichen die 14 sicherlich aus.

Am schwierigsten wird natürlich die Anfangszeit, eben wegen der Zweigleisigkeit der Verfahren. Da werden einige Richter, die eigentlich im neuen Gesetzesrahmen arbeiten sollen, noch mit dem alten System funktionieren müssen. Und eine besondere Herausforderung, die auf uns wartet, ist das gemeinsame Sorgerecht. Hier wurde durch das neue Gesetz ein Paradigmenwechsel vollzogen, der auch in der Gesellschaft ankommen wird. Dadurch werden zahlreiche Konflikte entstehen, was für uns bedeutet, dass auch viele Gerichtsverfahren in dem Bereich auf uns zukommen.

Sie haben zusammen mit zwei weiteren Kollegen in den Jahren 2014 bis 2016 alte Scheidungsfälle bearbeitet, die sich teilweise schon über Jahre hinzogen. Mit dem neuen Gesetz soll die Scheidung nun viel schneller vollzogen werden. Wie finden Sie das?
Nach dem neuen Gesetz haben wir keine andere Wahl, als schnell zur Scheidung zu kommen. Wir haben vom Gesetzgeber genaue Fristen gesetzt bekommen, an die wir uns halten müssen. Geschieden sind sie nach dem neuen Gesetz schnell – vielleicht sogar etwas zu schnell. Meiner Erfahrung nach wäre etwas mehr Zeit bei den Überdenkungsfristen angemessen gewesen. Die zweimal drei Monate, also insgesamt ein halbes Jahr, sind wenig, wenn man von der Scheidung überrascht wird.

Es gibt Paare, die sich seit Jahren nicht verstehen und für die eine Scheidung absehbar ist. Diese sind meist erlöst, wenn das Wort Scheidung einmal ausgesprochen ist und der Prozess schnell über die Bühne geht. Aber es gibt auch Personen, die davon ausgehen, in einer gut funktionierenden Beziehung zu sein, bis sie der Partner mit dem Scheidungsantrag völlig überrascht. Nicht jeder ist dann in der Lage, gleich in den ersten Monaten strukturiert den Scheidungsprozess zu beginnen. Für diese Fälle finde ich die Bedenkzeit sehr kurz.

Als Sie die alten Scheidungsfälle aufgearbeitet haben, waren viele davon eine Scheidung durch Verschuldung. Diese wird nun abgeschafft. Positiv oder negativ?
Also mir wird die Verschuldung nicht fehlen. Teilweise kann ein Verschuldungsverfahren aufbauend sein für jemanden, der geschieden wird. Wenn der Partner während der Scheidung etwa ein Verschulden zugibt, kann es sich positiv auf die Verarbeitung der Scheidung auswirken. Außerdem kann die vor Gericht erzwungene Offenheit eine Basis bilden, um in Zukunft besser miteinander klarzukommen. Für diese offenen Gespräche und Geständnisse braucht es aber nicht unbedingt eine Scheidung wegen Verschuldens, das geht bei jeder Scheidung. Es ist uns nicht verboten, mit den Betroffenen darüber zu reden, was zur Scheidung geführt hat und wie es in Zukunft weitergehen soll.

Im Interview mit Pro Familia (Tageblatt vom 18.7.2018) hat die Verantwortliche des Beratungszentrums, Béatrice Ruppert, davon gesprochen, dass eine Scheidung wegen Verschuldens viel Vertrauen zerstört.
Das ist definitiv richtig. Deswegen ist es auch gut, dass die juristische Verschuldung nun abgeschafft wurde. Sie hat nur zu Zerstörung geführt. Die Betroffenen haben viel zu viel Energie darauf verschwenden müssen, sich an Vergangenes zu erinnern und Beweise zu sammeln. Aber in den vergangenen Jahren haben wir einen Großteil der Verschuldungsscheidungen im gegenseitigen Einverständnis abgeschlossen. Das Motto war sozusagen „Faute avouée, vite divorcé“. Doch manche haben sich im Streit und in der Prozedur versteift und keinen Weg aus dem Scheidungskonflikt gefunden. Deswegen trauere ich der Scheidung wegen Verschuldens keine Träne nach.

Wie scheidet sich Luxemburg Ihrer Erfahrung nach: unheilbar zerstritten oder im gegenseitigen Einvernehmen?
Das können Sie auf keinen Fall an der Scheidungsart festlegen. Es gibt Scheidungen, die zwar in gegenseitigem Einverständnis vollzogen werden, die Ex-Partner streiten dennoch heftig. Und es gibt Scheidungen wegen Verschuldens, bei denen sich die Betroffenen bei allem einig sind, sie aber wegen der Kürze der Ehe (weniger als zwei Jahre) oder weil einer der beiden nur den Mindestlohn bekommt, dieses Verfahren durchlaufen müssen. Meiner Erfahrung nach sind die Betroffenen bei den Scheidungen wegen Verschuldens nur in etwa einem Drittel aller Fälle unheilbar zerstritten. Bei den anderen kann ich es nicht einschätzen. Aber nur weil vor Gericht nicht gestritten wird, heißt es nicht, dass es zu Hause anders aussieht.

Hat für Sie die Reform des Scheidungsgesetzes in Luxemburg zu lange gebraucht?
Schon ein wenig. Im Laufe der Jahre hat sich das Gesetzprojekt weiterentwickelt. Am Anfang war es eventuell nicht kohärent genug, wieso der Staatsrat in einigen Punkten sein Einverständnis nicht gegeben hat. Das Gesetz, das nun verabschiedet wurde, ist eine angepasste Version des ersten Projektes. Wir müssen nun erst mal genau beobachten, wie sich das Gesetz umsetzt. Ich befürchte nämlich, dass beim „Abspecken“ und „Rationieren“ des Gesetzes im Laufe der Zeit gute Ansätze aus dem ersten Projekt verloren gegangen sind.

Auf dem parlamentarischen Weg ist der Schwung, den wir alle hatten, als das neue Gesetzprojekt eingereicht wurde, etwas verloren gegangen. Wir mussten in Zwischenzeit ein Modus Vivendi auf dem Gericht finden, der schon viele Probleme behoben hat, und wir hätten „à la limite“ so weitermachen können. Doch jetzt ist zum Glück alles geregelt.

Wo muss am Gesetz noch nachgebessert werden?
Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Die Idee, es in drei Jahren nochmals zu untersuchen und zur Not erneut zu reformieren, ist exzellent. Es könnte sein, dass Dinge dabei sind, die nachgebessert werden müssen. Aber es ist schon mal gut, dass wir nun ein Gesetz haben.

Ist Luxemburg mit seinem Scheidungs- und Familienrecht nun endlich in der modernen Zeit angekommen?
Definitiv. Wir hinkten ganz weit hinterher. Ein Kollege hat mir mal gesagt, dass das Familienrecht in Luxemburg menschenunwürdig sei. Ich habe ihm beigepflichtet. Es gibt Drittweltländer, die in puncto Familienrecht weiter waren als wir. Anfang 2000 hatten alle unsere Nachbarländer ein gemeinsames Sorgerecht. Wir haben nun 2018. Wir brauchen uns auf unsere Schnelligkeit wirklich nichts einbilden. Deswegen muss man Justizminister Felix Braz beipflichten, wenn er sagt: „Wenn wir das erste Land sind, das es zulässt, dass ein Kind einen Antrag an einen Richter stellen kann, dann gut, dass wir zumindest einmal die Ersten sind.“

Was geben Sie jemandem mit auf den Weg, der jetzt vor einer Scheidung steht?
Auf jeden Fall sich juristisch beraten zu lassen, ehe man etwas unternimmt. Es gibt Fälle, in denen man starkes Interesse daran hat, nach dem neuen Gesetz geschieden zu werden. Für andere ist es besser, noch nach dem alten Gesetz zu verfahren. Wer sich vorher aussprechen möchte, dem kann ich ans Herz legen, vor der Scheidung in eine „Médiation“ zu gehen. Dann verlaufen die Scheidungen meistens etwas konfliktfreier. Besonders wichtig ist es aber, zu wissen, dass eine Scheidung kein Krieg ist, den man gewinnen kann. Bei einer Scheidung gibt es nur Verlierer.


Zur Person

Alexandra Huberty ist Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Luxemburg und leitet seit Januar 2014 die Vierte Kammer, die für Scheidungen zuständig ist.