„Es lebe die Europäische Republik!“ – Schriftsteller Robert Menasse über das Balcony Project

„Es lebe die Europäische Republik!“ – Schriftsteller Robert Menasse über das Balcony Project

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In der notwendigen Verkürzung ist es der Versuch, einen radikalen Anstoß zu geben. So umschreibt der österreichische Schriftsteller Robert Menasse das Manifest, mit dem am 10. November quer über den Kontinent die Europäische Republik ausgerufen wird. Das Ganze läuft unter dem Namen „Balcony Project“ und soll ein Zeichen gegen den grassierenden Nationalismus setzen.

Tageblatt: Wieso werden Sie und andere Künstler die Europäische Republik ausrufen?

Robert Menasse: Wenn die europapolitisch Verantwortlichen, die politischen Eliten in Europa zu schlafwandeln beginnen, keine Perspektiven mehr haben und nur noch mühsam den Status quo irgendwie gerade so aufrechterhalten können, wenn sie keine Antworten auf die gegenwärtigen Widersprüche haben, keine Vision, nicht mal mehr die Idee kennen, um die es beim europäischen Einigungsprojekt geht, dann ist das so ein Moment, wenn wieder einmal Künstler aktionistisch aktiv werden müssen.

Was wollen Sie damit erreichen?

Wir wollen einen Anstoß in den öffentlichen Raum hineintragen, die Zukunft Europas konkret zu diskutieren. Was wir zur Diskussion stellen, ist die Idee einer europäischen Republik – 100 Jahre, nachdem in Europa mehrere Republiken ausgerufen wurden. Und da die Republiken immer von Balkonen ausgerufen wurden, haben wir uns gesagt: So, wir besetzen möglichst viele Balkone in Europa und rufen die Europäische Republik aus.

Wo sind wir gerade dran?

Circa 100 Theater quer durch Europa machen mit. Und 350 Kulturinstitutionen und -intiativen. Die Idee ist einfach: Wir rufen die Europäische Republik aus mit einem Manifest, in dem wir die wichtigsten Punkte einer europäischen Demokratie proklamieren. Dann laden wir die Menschen in die Theater und Kulturinstitutionen ein, um gemeinsam zu diskutieren. Das ist eine Kunstaktion im öffentlichen Raum, aber es soll auch eine Initiative gegen die Perspektivlosigkeit in Europa und für eine vernünftige Vision für eine Gestaltung der europäischen Zukunft sein.

Eine europäische Republik geht mit einem Zurückdrängen des Nationalstaates einher. Der Zeitgeist scheint gerade eher anders zu ticken…

Das ist ja das große Missverständnis. Wir wollen diesen Schleier wegziehen, der die Realität verzerrt und zudeckt. Alle nationalistischen Bewegungen in Europa erreichen so um die 20 Prozent – und schaffen es mit diesen 20 Prozent, so viel Unruhe zu machen, dass sie den öffentlichen Diskurs beherrschen und von den alten, traditionellen Volksparteien vor lauter Panik noch dazu in die Regierungen geholt werden.

Sie werden nicht nur in Regierungen geholt, ihre Ideen werden übernommen. Ohne Erfolg allerdings.

Was eine Erosion der europäischen und demokratischen Werte nach sich zieht. In dem Augenblick, in dem ich als Christdemokrat oder als Sozialdemokrat sage, dass es plötzlich so viele Menschen gibt, die so viele Ängste und Sorgen haben, die nur mit radikalem Nationalismus in irgendeiner Form bewältigt werden können, dass sie nur so wieder zu Sicherheit finden, und dann meine, das ernst nehmen zu müssen und die Menschen dort abholen zu müssen, wo sie sind, dann passieren zwei Sachen. Erstens: Einer, der die Menschen abholen will, wo sie sind, der ist dann selber dort. Das ist das, was wir erleben. Und zweitens sagen sich die Wähler nationalistischer Parteien oder Bewegungen dann, jetzt geben die es ja auch schon zu, das heißt, die Rechtsextremen, die es immer schon sagten, haben recht gehabt.

Die traditionellen Parteien rennen trotzdem diesen 20 Prozent hinterher.

Aber es bleibt dabei, es sind 20 Prozent, keine 80. Und von diesen 80 schreibt nicht ein Prozent ununterbrochen Posts in den Foren der Zeitungen, vernetzt sich nicht über die sozialen Netzwerke. Weil das, im klassischen Sinn, einfache Wähler sind, die alle vier Jahre zur Wahl gehen und mit Sorge betrachten, was in der Welt los ist.

Aber organisieren tun sich die Rechten.

Deswegen wollen wir das ja in einer öffentlichen Debatte wieder vorführen. Dass ihr, die ihr sagt, ihr seid das Volk, und ihr, die ihr glaubt, ihr seid die Mehrheit, und ihr, die ihr den Anspruch habt, dadurch die Mehrheit zu sein, dass alle, die nicht eurer Meinung sind, aus dem Volk sozusagen ausgeschlossen sind – dass ihr das nicht seid: Ihr seid weder das „Volk“, noch seid ihr die Mehrheit. Weil wir es mit Gesellschaften zu tun haben, die offene, liberale, demokratische Gesellschaften sind. Keine einheitlichen, geschlossenen, soziologischen Gebilde, sondern differenzierte, in denen es verschiedenste Interessen gibt, unter denen ein Kompromiss gefunden werden muss – und nur das ist demokratisch. Es ist eine Schande, dass man die Basics der Demokratie wieder erklären muss. Aber wenn es notwendig ist, dann müssen wir es tun.

Gibt es eine politische Einflussnahme auf Ihr Projekt?

Wir wollen politisch pulsieren, werden uns aber nicht von den Repräsentanten der klassischen Parteien kapern lassen. Wir wollen politischen Druck auf die klassischen Volksparteien ausüben. Wir wollen die Christdemokraten daran erinnern, was christlich ist, was auch die christliche Soziallehre bedeutet. Wir wollen die Sozialdemokraten daran erinnern, was der sozialdemokratische Anspruch sein müsste, zum Beispiel eben auch die internationale Solidarität statt Heucheln mit den Wölfen. Wir vermeiden „Schirmherrschaften“, weil wir diese Herrschaften kritisieren wollen. In dem Augenblick, in dem die Diskussion eine Dynamik bekommt, werden sie sich ohnehin damit auseinandersetzen müssen.

Die EU war schon einmal näher an den Idealen, an die Sie jetzt erinnern. Der erste Kommissionspräsident, Walter Hallstein, sagte von der EU, ihr Ziel sei die Abschaffung der Nationalstaaten. Das würde sich heute kein Politiker mehr trauen zu sagen.

Aber auch unter Jacques Delors war noch viel mehr Perspektive da. Wer sich näher für die Eingeweide des europäischen Maschinenraums interessiert, bemerkt, dass der ganze Apparat der europäischen Institutionen in der Delors-Zeit wirklich euphorisch gearbeitet hat – weil sie gesehen haben, es entwickelt sich was, es geht weiter und es sind vernünftige Schritte. Das Problem war, dass nach Delors die Staats- und Regierungschefs, dass der Europäische Rat dann gesagt hat, so etwas wie Delors darf uns nie mehr passieren.

Sie fordern jetzt dessen Abschaffung.

Ja, weil danach der große Backlash kam. Der große Backlash, das muss man einmal begriffen haben, ist ja nicht passiert, weil plötzlich am rechten Rand eine Blase immer größer angeschwollen wäre. Das ist passiert, weil aus der Mitte des politischen Spektrums eine starke Defensive begonnen hat, die von den Staats- und Regierungschefs ausging. Die fanden, das geht zu schnell, das geht zu weit, wie erkläre ich das meinen Wählern. In dem Augenblick, in dem sie die Sicherheit verloren haben, dass sie etwas erklären können, haben sich andere leichtergetan, die einfache Erklärungen haben.

Auch der heutige Kommissionschef Jean-Claude Juncker ist mit großen Ambitionen gestartet. Wie bewerten Sie seine Arbeit?

Juncker ist ja eigentlich ein Kommissionspräsident, der schon weiß, worum es ginge – ich bleibe da im Konjunktiv. Ich bin überzeugt davon, wenn es nicht gelingt, die Krisen jetzt einigermaßen produktiv zu lösen, dass wir in ein paar Jahren dem Juncker sehr, sehr nachweinen; auch wenn es heute viele Gründe gibt, ihn zu kritisieren.

Gegen Ihr „Balcony Project“ gibt es auch Kritik. Sie kommt vor allem von rechts. Wie gehen Sie damit um?

Es gibt immer wiederkehrende Kritik von der Rechten, sogenannte Argumente, die gebetsmühlenartig angeführt werden. Doch was uns wichtig ist, sind die Diskussionen in der Folge: dass wir ganz konkret diese falschen Argumente gegen das Projekt und gegen die Zukunft Europas zerpflücken. Zum Beispiel wird immer gesagt: Das kann nicht funktionieren, weil nur der Nationalstaat Rechtsstaatlichkeit und Demokratie garantiert. Wenn man sich aber die Geschichte anschaut, ist das vollkommener Unsinn. Seit der Nationswerdung der europäischen Staaten haben alle Nationen mehr autoritäre, gesetzlose Zeiten verbracht als im Rechtszustand und in Demokratie.

Ein anderer Vorwurf ist der, dass Sie einen großen Zentralstaat wollten. Ist da nicht etwas dran?

(Lacht) Genau, nach dem Motto: Die Linken wollen immer noch nach dem Vorbild der Sowjetunion einen großen autoritären oder diktatorischen Zentralstaat. Auch darum ist uns wichtig, zu zeigen, welche Rahmenbedingungen die Republik produziert. Unter dem Dach der Republik ist zum Beispiel ein Europa als Netzwerk von Regionen vorstellbar.

Mit solchen Forderungen werden Sie aber bei einigen auf Granit beißen, auch Luxemburg hat durch die EU in ihrer jetzigen Form ein nicht zu unterschätzendes Mitspracherecht.

Wenn ich Luxemburger wäre, hätte ich im Hinblick auf diese Diskussion schon a priori eine ganz andere und viel neugierigere Haltung als zum Beispiel ein Deutscher. Aus einem einfachen Grund: Die Bürger eines kleinen Staates können ja kein Interesse daran haben, dass eine ökonomisch starke, große, politisch einflussreiche Nation in dieser Gemeinschaft eine Politik im Sinne ihrer nationalen Interessen durchsetzt. Gerade die kleinen Länder in Europa müssen ein Interesse daran haben, dass ihre Bürger gleichberechtigte Bürger gegenüber einem europäischen Gemeinschaftsrecht sind. Es ist perspektivisch wichtig, klarzumachen, dass es darum geht, zu verhindern, dass zwei oder drei große Nationen über das Schicksal aller anderen bestimmen. Europa ist demokratisch und sozial oder es wird nicht sein – und demokratisch und sozial im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit kann es nur sein, wenn man den Nationalismus überwindet, weil man nur so die Vorherrschaft der großen Nationen überwindet.


Und in Luxemburg?

Rund hundert Theater aus fast ganz Europa machen beim „Balcony Project“ mit. Aus Luxemburg ist keines dabei. Die „Theater Federatioun“ erklärt auf Tageblatt-Nachfrage, nicht informiert gewesen zu sein. Das sei zwar eine schöne Initiative, eine Teilnahme wegen des nahen Datums nun aber kaum mehr möglich. Wer möchte, kann am 10. November trotzdem in Luxemburg die Europäische Republik ausrufen. Möglich macht das ein Zusammenschluss aus Künstlern und engagierten Bürgern unter dem Namen „Opbroch Europa“. Treffpunkt ist um 16 Uhr an besagtem Tag auf der place Clairefontaine.


Wer ist Robert Menasse?

Robert Menasse, 1954 geboren, ist ein österreichischer Schriftsteller. Sein letzter Roman mit dem Titel „Die Hauptstadt“ erschien im vergangenen Jahr. Er wird als weltweit erster Roman über die Europäische Union bezeichnet. Menasse erhielt dafür den Deutschen Buchpreis. Menasse hat das „Balcony Project“ zusammen mit der deutschen  Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Guérot sowie dem Schweizer Regisseur und Essayist Milo Rau gestartet.