Erdogan auf dem Zenit seiner Macht

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Die türkische Opposition hat sich Hoffnungen gemacht, den ewigen Wahlsieger Erdogan abzulösen. Wieder ist sie gescheitert – und Erdogan ist mächtig wie nie. Wie geht es weiter mit der Türkei?

Ein Meer an türkischen Flaggen erstreckt sich vor der Zentrale der islamisch-konservativen AKP in Ankara. Aus den Boxen dröhnt der Song, dessen Refrain nur aus dem Namen jenes Mannes besteht, um den das Lied geht: Recep Tayyip Erdogan. Es ist mitten in der Nacht, am Montag müssen die Menschen wieder arbeiten, doch das ist ihnen egal. Seit Stunden warten sie geduldig auf den bisherigen und künftigen Präsidenten, der wie bei jedem seiner Siege eine „Balkonrede“ angekündigt hat, eine Ansprache vom Balkon der AKP. Kurz vor drei Uhr tritt Erdogan schließlich auf – heiser vom Wahlkampf, aber hochzufrieden: Er ist auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt.

Der triumphale Auftritt markiert das Ende einer Wahl, bei der es diesmal eng für Erdogan zu werden drohte: Die meisten Umfragen haben vorausgesagt, dass der Amtsinhaber in eine Stichwahl gegen den Kandidaten der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, muss. Der Wahlkampf der AKP ist schlecht gewesen, wie unter der Hand selbst Vertreter der seit fast 16 Jahren regierenden Partei einräumen. Ince zog dagegen in den türkischen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir Hunderttausende begeisterte Zuhörer an, wenn nicht Millionen.

Einheimische Wahlbeobachter melden am Wahltag Unregelmäßigkeiten, die CHP beklagt Manipulationen. Internationale Wahlbeobachter bilanzieren am Montag, die Opposition habe wegen des Ausnahmezustands und der medialen Übermacht Erdogans schlechtere Chancen gehabt. Erdogan hat sich aber schon am Sonntagabend zum Sieger erklärt, nach dem vorläufigen inoffiziellen Ergebnis kommt er auf 52,6 Prozent der Stimmen. Der Chef der Wahlkommission tut es ihm kurz darauf gleich. Die Schlagzeile der regierungsnahen Zeitung „Takvim“ lautet am Montag: „SÜPERDOGAN“, daneben steht: „13 Siege in 16 Jahren“.

Erdogans wichtigstes Projekt

Anhänger Inces warten am Wahlabend ungeduldig auf einen Auftritt des Kandidaten, viele dürften trotz des Ausnahmezustands bereit dazu gewesen sein, auf die Straße zu gehen. Sie haben die Wahlen als letzte Chance gesehen, eine „Ein-Mann-Herrschaft“ zu verhindern.

Ince tritt aber erst am Montagmittag bei einer Pressekonferenz in der CHP-Zentrale in Ankara wieder auf. Als erstes schmeißt er den Vertreter des stets auf AKP-Linie funkenden Staatssenders TRT aus dem Saal. „Was macht TRT hier, wenn sie unsere Wahlkampfauftritte in Istanbul, Ankara und Izmir nie übertragen?“, fragt Ince. Dann erklärt er, die Wahlen seien zwar unfair gewesen – verloren habe er sie mit fast elf Millionen Stimmen Differenz zu Erdogan aber trotzdem. „Haben sie Stimmen gestohlen? Ja, bestimmt haben sie das. Aber haben sie zehn Millionen Stimmen gestohlen? Nein. Und ich erkenne das Wahlergebnis an.“

Erdogan hat spätestens damit sein wichtigstes Projekt durchgebracht: Die Einführung seines Präsidialsystems ist mit den Wahlen abgeschlossen, und der überaus mächtige Präsident heißt Erdogan. Dem nicht genug, seine AKP ist bei der zeitgleichen Parlamentswahl zwar abgestraft worden und hätte alleine keine Mehrheit mehr. Sie ist aber ein Parteienbündnis mit der ultranationalistischen MHP eingegangen, und die Allianz hat weit mehr als die Hälfte der Parlamentssitze.

„Das letzte Hindernis“

Erdogan ist künftig Staats- und Regierungschef, er kann per Dekret regieren. Nur eine Mehrheit der Opposition im Parlament hätte ihm reinfunken können. Erdogan nennt das neue System eine „demokratische Revolution“. Die Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments, Kati Piri, sieht das – stellvertretend für viele in Europa – ganz anders. Auf Twitter schreibt sie am Montag mit Blick auf Erdogans Wahlsieg: „Das letzte Hindernis zur Einführung eines hochgradig undemokratischen Präsidialsystems ist jetzt beseitigt worden. Eines Systems, das absolut unvereinbar mit EU-Beitrittsgesprächen ist.“

Interessant ist auch die Riege der Staats- und Regierungschefs, die zu den ersten Gratulanten Erdogans gehören: Glückwünsche nach Ankara kabeln unter anderem Viktor Orban aus Ungarn, Wladimir Putin aus Russland, Hassan Ruhani aus dem Iran, Alexander Lukaschenko aus Weißrussland und Nicolás Maduro aus Venezuela – aus westlicher Sicht allesamt keine Vorzeigedemokraten. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel will Erdogan dagegen erst „zur gegebenen Zeit“ gratulieren.

Das Verhältnis zu Deutschland bleibt für Erdogan auch nach seiner Wiederwahl eine Baustelle. Unvergessen sind seine Nazi-Vergleiche vom vergangenen Jahr. Wahrscheinlich ist, dass Erdogans Regierung den Kurs der vergangenen Monate fortsetzt und sich weiter um Entspannung bemüht, schon alleine im Interesse der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Eine erneute Belastung dürfte bevorstehen, sollte Erdogan sich mit einem Auftritt in Deutschland bei seinen Wählern dort bedanken wollen, die ihn stärker als die in der Türkei gestützt haben.

„Die Demokratie ist Gewinner dieser Wahl“

Die Opposition hat sich dieses Mal große Hoffnungen gemacht. Warum Erdogan trotzdem gewinnen konnte, darauf gibt womöglich eine von der Mercator-Stiftung geförderte Umfrage des Center for American Progress (CAP) kurz vor der Wahl Hinweise. Fast zwei Drittel der Befragten sahen in Erdogan jenen „starken Anführer“, als den er sich selber stets darstellt. „Gute Ideen für die Wirtschaft“ billigten dem Präsidenten zwar nur jeder Zweite zu – aber das war immer noch deutlich mehr als bei den jeweiligen Herausforderern.

Zwar sind Preise für Grundnahrungsmittel deutlich gestiegen, die Inflation liegt bei mehr als zwölf Prozent und die Lira verliert an Wert. Dennoch haben viele Türken nicht vergessen, wie sich das Land seit dem Antritt der AKP entwickelt hat: Im ersten Erdogan-Jahrzehnt verdreifachte sich das statistische Pro-Kopf-Einkommen. Erdogan verwies im Wahlkampf immer wieder auf mangelnde Regierungserfahrung der CHP, der er die Fähigkeit absprach, Probleme zu lösen. Oder, wie er sagte: „Würden Sie einem Lehrling Ihren Laden anvertrauen?“

Bei seiner Balkonrede in Ankara sagt er: „Meine Brüder, die Gewinner dieser Wahl sind die Demokratie, der Wille des Volkes und das Volk höchstpersönlich. Der Gewinner dieser Wahl ist jeder einzelne unserer 81 Millionen Bürger.“ Knapp die Hälfte davon dürfte das allerdings anders sehen.

Thomas Bosch
26. Juni 2018 - 11.23

Einer der Gründe dafür ist dass die Menschen mehr Demokratie wollen und denjenigen wählen der ihnen einredet für mehr Demokratie zu stehen, in Wirklichkeit aber genau das Gegenteil tut. Tatsächlich hat während der letzten Jahrzehnte die sogenannte Elite den Aufschrei der Menschen nach mehr Gerechtigkeit mit Ignoranz und Tatenlosigkeit bestraft. Viele Institutionen sind hoffnungslos bürokratisiert und inkompetent. Schauen Sie sich mal unsere EU-Institutionen an. Die meisten Menschen finden das System kompliziert und äusser undemokratisch. Zehntausende hoch bezahlte EU-Beamte arbeiten in Luxemburg, Strassburg und Brüssel. Schaut man hinter die Kulissen wird einem klar warum sich so oft einfach nichts bewegt. Die EU ist immer noch der Spielball der Grossmächte Russland und den USA, ohne eine vereinte Stimme, politische und militärische (ja die ist leider auch nötig) Macht. Der Brexit, Trump, Erdogan,... sind unter anderem auch Protestwahlen gegen dieses System. Irgendwann stehen wir vor unserem selbstverschuldeten Scherbenhaufen und werden rückblickend endlich klarer sehen was die Ursachen waren die dazu geführt haben.

Grober J-P.
26. Juni 2018 - 9.53

Oder die allerdümmsten Kälber wählen...., weiß nicht was los ist in Europa oder im Westen. Immer mehr gehen den Ratenfängern in die Falle. Liegt das am IQ oder am "Futter" das uns vorgesetzt wird?

J.C. KEMP
25. Juni 2018 - 19.58

Wer hoch hinaus fliegt, fällt härter auf die Nase. (alte armenische Volksweisheit)