Einsicht geht anders

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Der türkische Botschafter in Luxemburg über den gescheiterten Putsch.

Der türkische Botschafter in Luxemburg fordert im Interview mehr Solidarität mit seinem Land, redet aber die Auswüchse der „Säuberungen“ klein. Gleichzeitig erkennt Mehmet Haluk Ilicak, dass einst wohlgesinnte Politiker wie Jean Asselborn die Türkei zunehmend kritisch sehen.

Wie haben Sie sich in Luxemburg eingelebt?

Ich fühle mich sehr wohl. Es ist zwar ein kleines, aber sehr willkommensfreudiges Land. Die Politiker sind sehr leicht zu erreichen. Das freut mich.

Wie hat Luxemburg nach dem gescheiterten Putschversuch reagiert?

Wir sind Premierminister Xavier Bettel und den luxemburgischen Behörden dankbar. Im Gegensatz zu anderen EU- und NATO-Mitgliedstaaten haben die Luxemburger sofort nach dem gescheiterten Militärcoup vom 15. Juli ihre türkischen Amtskollegen angerufen, um sich solidarisch zu zeigen.

Es gibt dennoch selbst aus Luxemburg Kritik an der Art und Weise, wie die Türkei auf den Putsch reagiert hat.

Ich glaube, dass das an einer schlechten Informationslage liegt. Viele Staatenlenker haben das Ausmaß des gescheiterten Coups immer noch nicht verstanden. Sie tun so, als ob die Türkei gerade eine normale Phase durchlaufe. Das hier hat nichts mit PKK, YPG und ähnlichen Terrororganisationen zu tun.

Die Türkei wiederholt immer, dass die Gülenisten hinter dem Coup stecken würden.

Die Gülenisten von Fetö, deren Anführer Fethullah Gülen sich wie der Imam des Universums vorkommt, konnten alle staatlichen Institutionen infiltrieren. Von der Justiz über die Armee bis hin in das Bildungswesen. Sie waren überall.

Die Antwort des türkischen Staats war dennoch unverhältnismäßig brutal.

Die türkische Armee zählt im Durchschnitt etwas mehr als 300 Generäle. 166 von ihnen sind angeklagt. Das Ausmaß ist unvorstellbar. Alles, was nach dem Coupversuch zum Schutz des Staates passiert ist, wirkt auf den Rest der Welt massiv. Ich verstehe das. Die Journalisten sagen, mehr als 150.000 Staatsbeamte wurden vom Dienst suspendiert. Hierbei handelt es sich nur um 3,4 Prozent der Gesamtzahl der türkischen Staatsbeamten.

Wenn es stimmt, ist die Türkei ein „Failed State“. Wer soll denn glauben, dass in so einem Umfeld eine unabhängige Justiz überleben kann?

Genau das ist das Problem. Die Kritik bezieht sich immer auf die „Säuberungen“. Es handelt sich aber nicht um „Säuberungen“, sondern um Suspendierungen. Es gibt 150.000 Verdächtige im Staatswesen. Die Hälfte des Justizwesens wurde angeklagt. Unter diesen Umständen konnte die Justiz nicht nach den gewöhnlichen Regeln verlaufen. Wenn jeder nach den üblichen Regeln korrekt Fall für Fall vor Gericht gekommen wäre, hätten Beweise geschwärzt und die Justiz allgemein behindert werden können.

Dennoch laufen Menschenrechtsorganisationen Sturm. Können Sie das nachvollziehen?

Wir haben die Leute suspendiert. Sie können nicht mehr in ihr Büro. Aber sie erhalten immer noch ihr Gehalt. Danach haben wir die juristischen Prozesse gegen 149.833 Personen angefangen. 48.636 von diesen Personen sind inhaftiert. Unter diesen Inhaftierten sind 166 Generäle, 6.810 Oberste oder andere Militärangehörige, 8.667 Sicherheitskräfte der Polizei, 2.575 Staatsanwälte und Richter, 208 Gouverneure, Präfekte und ähnliche Vertreter. 35.783 dieser Inhaftierten wurden unter richterlicher Aufsicht freigelassen. Der Prozess läuft weiter, aber sie werden nicht mehr festgehalten. Gegen 6.791 Personen, die entkommen konnten, wird Anklage erhoben. 822 wurden in Gewahrsam genommen.

Die Zahlen sind absurd hoch. Auf welcher juristischen Grundlage handelt die Justiz eigentlich? Welche Kriterien wendet sie an? Laut Ihrer Regierung ist fast jeder Kritiker ein Terrorist.

Nein, nicht jeder ist ein Terrorist. Das wichtigste Kriterium ist die Verwendung der Smartphone-App „ByLock“. Es handelt sich um einen verschlüsselten Messenger-Dienst. Die Fetö-Mitglieder benutzen den Dienst. Sie können die App nicht direkt herunterladen. Nur Fetö kann ihnen den Zugang zu „ByLock“ ermöglichen. Der Server dieser App war in Litauen. Anhand des Servers haben wir die Namen und die Telefonnummern der „ByLock“-Benutzer gefunden. Wir haben die App in den Smartphones der Angeklagten gefunden. Danach wurden die Botschaften entschlüsselt. Das ist ein direkter Beweis.

Eine App herunterladen, ist doch ein Beweis für überhaupt nichts. Wie soll so etwas als rechtliche Grundlage herhalten, um Leute zu verdächtigen? Das ist doch lächerlich.

Es handelt sich lediglich um Anklagen. Damit sind die juristischen Prozesse ja noch gar nicht zu Ende. Es ist aber ein Beweis dafür, dass sie eine Verbindung zu dieser Organisation, Fetö, haben. Da niemand diese App herunterladen kann, ohne dass Fetö sie ihnen zur Verfügung stellt, ist es ein Beweismittel. Alle Verwender („User“) dieser App werden beschuldigt. Es gibt mehr als 200.000 „User“. Von diesen werden jedoch nur rund 87.000 angeklagt. Wir machen einen Unterschied zwischen Vielnutzern und Personen, die die App heruntergeladen, sie aber wenig bis gar nicht benutzt haben. Nur Vielnutzern wird der Prozess gemacht.

Gibt es weitere Kriterien?

Es gibt Personen, die direkt im Zuge des Coups oder in den darauffolgenden Tagen erwischt wurden: z.B. Mitglieder des Militärs, der Polizei und einige Zivilisten. Daneben berufen wir uns auf Augenzeugenaussagen. Und es gibt viele Staatsbeamte, die bei ihrer Aufnahmeprüfung in den öffentlichen Dienst geschummelt haben. Wir haben herausgefunden, dass vielen die Fragen bekannt waren oder ihnen weitergeleitet wurden. Jene, die auf diese Weise in den öffentlichen Dienst eingetreten sind, wurden entlassen.

Diese Kriterien sind beliebig und stark politisiert. Haben alle außer Ihrer Regierung keine Ahnung?

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Anklage und dem restlichen Prozess. Meine Gegenfrage lautet: Wie kann es sein, dass sieben türkische Soldaten, die mit dem Helikopter nach Griechenland geflohen sind und dort Asyl beantragten, nicht an die Türkei ausgeliefert werden? Das ist eine Entscheidung der griechischen „Justiz“. Was ist von dem Verhalten eines alliierten Landes wie Griechenland zu halten, das Beteiligte eines gescheiterten Militärcoups deckt? Ist das demokratisch?

Sie kennen meine Antwort.

Ja. Sie antworten mir jetzt: Die Justiz in der Türkei ist nicht unabhängig.

Genau. Stimmt doch. Oder?

Ob unabhängig oder nicht: Was soll das?

Ihre Regierung benutzt immer die gleiche Taktik, um abzulenken.

Ja, wir benutzen das Argument die ganze Zeit.

Warum können Sie nicht beim Thema bleiben? Weshalb weichen Sie, angesprochen auf die Missstände in Ihrem Land, aus?

Nehmen Sie doch zum Beispiel den „Marsch der Gerechtigkeit“ von vergangenem Sonntag. Hunderttausende Menschen konnten friedlich gegen Präsident Erdogan protestieren, ohne dass etwas passiert ist. Das zeigt doch auch, dass es mindestens eine demokratische Basis in unserem Land gibt.

Das bestreitet niemand. Es geht auch nicht um Türkei-Bashing. Allerdings muss man die eindeutige Botschaft der Protestierenden berücksichtigen … Stichwort: Gerechtigkeit.

Ja, aber im Ernst: Wenn Sie sich im Westen die Nachrichten anschauen, haben Sie das Gefühl, dass in der Türkei Zustände wie in Libyen herrschen würden.

Libyen tut sich wahrscheinlich schwer damit, so viele Journalisten wie die Türkei hinter Gittern zu bringen.

Wenn man den Begriff Journalist verwendet, muss man vorsichtig sein. Warum? In der Türkei ist der Journalismus klar vom Gesetz definiert. Die Journalisten erhalten eine gelbe Pressekarte. Aber wenn sie für eine Zeitung arbeiten, jedoch nur Chauffeur sind oder nur zum Fotografieren hingehen, ohne wirklich Journalist zu sein, werden sie nicht als solcher von uns wahrgenommen.

Das sind doch keine Argumente. Und Sie machen doch nicht einmal vor Journalisten wie dem Deutsch-Türken Deniz Yücel halt.

Er wurde doch freigelassen.

Nein, das wäre aber jetzt eine Breaking News. Präsident Erdogan hat sogar zu einer Auslieferung an Deutschland gesagt: „Auf keinen Fall, solange ich in diesem Amt bin niemals.“

Nehmen Sie den Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar. Er wurde nicht wegen seiner journalistischen Arbeit angeklagt. Ihm wird vorgeworfen, Staatsgeheimnisse veröffentlicht zu haben. Das ist wie bei Wikileaks. Die USA versuchen doch immer, die Leute zu erwischen.

Das ist doch nicht Ihr Ernst. Journalisten mit Whistleblowern gleichzusetzen, ist absurd. Die USA fordern die Auslieferung von Edward Snowden und Julian Assange – nicht von Journalisten, die ihr Material veröffentlichen.

Die Verbreitung der Information ist das Problem. Ihre Journalismus-Definition ist, glaube ich, eine andere als meine.

Das glaube ich auch.

Wenn Staatsgeheimnisse, im Wissen, dass sie geheim sind, veröffentlicht werden, ist das für uns eine Straftat. In der Türkei war das bereits vor dem gescheiterten Militärcoup der Fall.

Wie soll ein Staat, der solch eine Haltung gegenüber Journalisten einnimmt, EU-Mitglied werden? Das ist doch Wunschdenken.

Ich kann es nur wiederholen: Diese Journalisten wussten, dass sie einen Fehler begehen würden.

Sie klammern sich an einen einzigen Fall von 177. Nehmen Sie Deniz Yücel. Ihm wird vorgeworfen, „Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung“ zu betreiben. Der Vorwurf könnte kaum lächerlicher sein.

(Steht auf und spaziert Richtung Aktentasche. Er greift nach seinen Dokumenten und blättert, um weitere Informationen zu Deniz Yücel zu finden.) Deniz Yücel … leider habe ich hier nur meine Infos zu Erdem Gül und Can Dundar, aber nicht zu Deniz Yücel. Ihm wird vorgeworfen, PKK-Propaganda zu verbreiten. Nicht wahr?

Ja. Deswegen gibt es diese heftige Auseinandersetzung mit Deutschland. Weshalb lassen Sie die Situation wegen so etwas eskalieren? Es wäre doch einfacher, Journalisten ihre Arbeit machen zu lassen.

Wissen Sie, das Problem zwischen der Türkei und den europäischen Staaten ist folgendes: Man hat in Deutschland einem türkischen Minister verboten, öffentlich aufzutreten. Das ist etwas anderes.

Sie lenken ab.

Ja, aber es verstößt gegen jegliche diplomatische Gepflogenheiten. Es handelt sich letztlich um die Souveränität der Staaten. Das kann man akzeptieren oder nicht. Was hingegen nicht akzeptabel ist: Sie haben Regierungspolitikern in Ihren Staaten verboten, öffentliche Auftritte zu veranstalten, um für das türkische Referendum zu werben. Aber Sie erlauben das Abhalten von Gegendemos. Das war in Deutschland und in den Niederlanden der Fall. Selbst in Brüssel hat man PKK-Anhänger auf der Place Schuman ihre Zelte aufschlagen lassen. Das ist verboten. Wieso aber solche Organisationen verbieten? Es wird kein Unterschied bei den Verboten zwischen dem „Islamischen Staat“ (IS) und der PKK gemacht. Beide stehen auf der offiziellen EU-Liste der verbotenen Terrorvereinigungen.

Ging man in Luxemburg ähnlich vor?

In Luxemburg war es genau das Gleiche im Jahr 2015. Die PKK veranstaltete einen Marsch, der vom Europäischen Gerichtshof auf Kirchberg ausging und ins Ausland führte. Ich habe Minister Etienne Schneider darauf angesprochen. Er gab zu: „Ja, das war unser Fehler. Das nächste Jahr wird sich die Situation nicht wiederholen.“ Wenn ich aber die belgischen Autoritäten auf so etwas aufmerksam mache, sagen sie, es sei eine friedliche Veranstaltung. Würde man das Gleiche tun, wenn der IS eine „friedliche“ Demo irgendwo in Europa veranstalten wollte? Natürlich nicht. Es wird also auch zwischen anerkannten Terrororganisationen ein Unterschied gemacht.

Selbst Außenminister Jean Asselborn, der für seine Solidarität mit der Türkei bekannt ist, distanziert sich in letzter Zeit stärker von Ihrer Regierung. Er meinte wortwörtlich in einem Interview: „Meine Meinung ist, die Türen der Gefängnisse, die müssen zuerst in der Türkei geöffnet werden, bevor wir die Türen öffnen zu Normalisierungsverhandlungen.“

Die Beziehungen zwischen der Türkei und den EU-Mitgliedstaaten haben sich ein wenig verschlechtert. Dafür gibt es zwei Gründe. Die Europäer haben diesen Putschversuch unterschätzt. Wir sind deswegen enttäuscht. Luxemburg handelte allerdings nicht so. Ich glaube, dass Minister Asselborn erst nach der Krise zwischen der Türkei und den Niederlanden Kritik äußerte. Man muss hier die Solidarität zwischen den Benelux-Staaten berücksichtigen. Die politischen Verantwortlichen in der Türkei haben den Niederlanden und Deutschland vorgeworfen, Nazi-Methoden anzuwenden. Sie haben jedoch nicht gesagt, dass sie Nazis wären. Danach hat sich alles ein wenig verändert. Und ich glaube, dass diese Streitereien auch Herrn Asselborns Einstellung verändert haben. Er fühlte sich zur Solidarität verpflichtet mit den Ländern, die ihn umgeben. Denn Luxemburg pflegt bekanntlich exzellente Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten.

Sie haben mir vorher meine Frage nicht beantwortet. Will die Türkei immer noch der EU beitreten?

(Erklärt sehr ausführlich die Anfänge der EU-Beitrittsgespräche der Türkei, die er als Diplomat mitgestaltete) Die Europäische Union will wirklich nicht, dass die Türkei EU-Mitglied wird. Die Franzosen wollen nicht von Platz zwei auf Platz drei rutschen. Es gibt unterschiedliche Gründe. Ich lasse die Details jetzt sein. Die EU tut nur so, als ob sie Interesse an einem Beitritt der Türkei habe. Die Türkei will jedoch wirklich ein Mitgliedstaat werden. Dies aber mit ihren eigenen Prioritäten in verschiedenen Bereichen. Man muss natürlich, um Mitglied zu werden, die Regeln des Klubs respektieren. Die Beziehungen haben sich komplett verschlechtert, als Zypern EU-Mitglied wurde. Seit diesem Zeitpunkt ist nichts mehr wie vorher. Wir wollten immer wie andere Kandidaten behandelt werden, das war aber nie der Fall.

DanV
15. Juli 2017 - 11.47

Herr Mehmet Haluk Ilicak verlangt also, dass befreundete Staaten aus Loyalität die Augen schliessen und den Verstand auf Leerlauf schalten sollten ? Ein Freund, der auf ein solches Verlangen eingeht, ist ein falscher Freund.

c.kremer
14. Juli 2017 - 20.43

Hannert daer Schund'literatur' vun engem Pro-Sultan Viel-Schreiberling, déi Ufanks der Woch a groussen Deeler vun der Stad verdeelt gouf, trotz 'Keine Reklame' op der Boîte, waert wuel och déi betreffend Ambassade stiechen. Dobäi luch e Flyer de Gesoot huet PKK a PYD wieren terroristesch Organisatiounen. Mat de Milliounen, déi e vun der EU kritt, kann e vill Blödsinn maachen.

Mephisto
14. Juli 2017 - 17.00

Der türkische Botschafter handelte gemäss der Maxime " Wes Brot ich ess, des Lied ich sing ". Er hat ja keine Wahl, will er nicht hinter Gitter landen. So gesehen sind Interviews mit Vertretern autoritärer Staaten sinnlos.

ronald
14. Juli 2017 - 16.12

Tëschend deem wat den H.Asselborn iwert d'Tirkei zielt, an deem wat seng Wieler vun der Tirkei haalen, do leien Welten! Déi Lëtzebuerger Politiker wieren vleit gutt beroden vill mei sec mat der Erdoganclique ëm ze goen! Den H.Ambassadeur Haluk Ilicak ass leider och just " his master Erdogan's voice" an vertrëtt an verteidegt strikt dat sippenhaft Virgoen vun dem autoritären Regime, wat zechdausenden vun onschëllegen Leit ewech spärt mat farfelüen Argumenter.

MartaM
14. Juli 2017 - 15.10

Erschreckend, Luxemburg hat Solidarität mit der Türkei bewiesen. Mir fehlen die Worte.