/ Ein Wichtel mit Engelsflügeln
Als Andrew Frame das Weihnachtsgeschenk von dem völlig fremden Menschen öffnete, musste er weinen. In dem Paket lag ein Holzrahmen mit einem Paar fein verlöteter, silberner Engelsflügel – drapiert um den Schriftzug „Little Angel“ („kleiner Engel“). Kaum ein Geschenk hätte ihn glücklicher machen können.
Frame nimmt seit vier Jahren an einer Weihnachtstradition in Neuseeland teil, die – in seinen Worten – „wahrhaft das ’sozial‘ in die Sozialen Medien bringt“. Das Phänomen mit dem Namen „Secret Santa“ (etwa: „geheimer Weihnachtsmann“) wurde im Jahr 2010 von einigen Enthusiasten des Kurznachrichtendiensts Twitter begründet. Inzwischen nehmen mehr als 3500 Bewohner des Inselstaats daran teil – inklusive Neuseelands neuer Premierministerin Jacinda Ardern.
Here we go, @nzsecretsanta is on the way! pic.twitter.com/o6BxsCYori
— Jacinda Ardern (@jacindaardern) 12. Dezember 2017
Der Ablauf erinnert an das von zahlreichen Betriebs-Weihnachtsfeiern bekannte Weihnachtswichteln: Jedem Teilnehmer wird ein anderer Mensch zugewiesen, den sie beschenken sollen. Anders als auf Weihnachtsfeiern handelt es sich dabei aber um eine Person, die sie höchstwahrscheinlich noch nie im echten Leben getroffen haben – und über die sie nicht mehr wissen, als auf ihrem Twitter-Profil steht.
Zwei Wochen Zeit fürs perfekte Geschenk
Wissen die „Wichtel“, wen sie beschenken sollen, haben sie zwei Wochen Zeit, für sie oder ihn ein passendes Geschenk zu besorgen. Einige von ihnen wälzen dafür Tausende Tweets des zu Beschenkenden und suchen nach einer Idee für das perfekte Geschenk. Andere wollen ihr Wichtelgeschenk lieber nicht dem Zufall überlassen und posten Hinweise oder ganze Wunschzettel unter dem Hashtag #NZSecretSanta.
My @nzsecretsanta gift is ready. Time to get it to the Santa Storehouse. Stat! #nzsecretsanta pic.twitter.com/Eb4ZPQ9EQ3
— James Shaw (@jamespeshaw) 13. Dezember 2017
Wichtiger als das, was man bekommt, ist für viele Twitterwichtel-Fans aber das Gefühl dabei, wenn Menschen liebevolle Geschenke von völlig fremden Menschen bekommen. „Ich war immer eher der Mensch, der sich freiwillig gemeldet hat, an Weihnachten zu arbeiten“, erzählt etwa die Bloggerin Greer Berry. „Aber ‚Secret Santa‘ hat sogar mein kaltes Weihnachtsherz zum Schmelzen gebracht.“
Sobald die Post Neuseelands getwittert hat, die „Wichtel“ seien auf dem Weg, sitze sie jedes Jahr vor dem Computer und aktualisiere fortlaufend den Secret-Santa-Hashtag, erzählt sie – in freudiger Erwartung von Bildern mit den Reaktionen Beschenkter auf ihre Pakete. „Meistens endet es so, dass ich auf meine Tastatur oder mein Handy heule, wenn ich den unglaublichen Aufwand sehe, den Menschen auf sich nehmen, um weihnachtlichen Geist zu verbreiten.“
Thanks #nzsecretsanta ! I love it. I might take it to work where it’ll get more use.
Thanks so much! pic.twitter.com/ENwvzVnXCU— Feliz NaviDadJoke (@MarcusDCook) 29. Dezember 2016
The courier knocked and made my day. ?? #nzsecretsanta thank you. Could not be more perfect. @thejaredbush would approve too ?? pic.twitter.com/wbDxO1w17Z
— Wendy Lester (@WendyWings) 29. Dezember 2016
My #nzsecretsanta nailed it! ❤️ing this book (or as much as you can given the tragic subject). Want to ditch plans & stay home reading pic.twitter.com/fw0cVXRyYD
— Kelly (@wellreadkitty) 27. Dezember 2016
Idee von Sam Elton-Walters
Andrew Frame verbindet eine sehr persönliche Erfahrung mit seiner ersten Teilnahme am Twitterwichteln – auch wenn die Engelsflügel erst im darauffolgenden Jahr kamen. „Ich war tatsächlich gerade unterwegs, mein erstes Secret-Santa-Geschenk zur Post zu bringen, als bei meiner Frau die Wehen einsetzen“, erzählt der 40-Jährige aus der Stadt Napier im Norden Neuseelands. Seine Tochter kam drei Stunden später gesund zur Welt. „Das waren zwei schnelle ‚Lieferungen‘ und bergeweise Glück an einem Tag.“
Das landesweite Twitterwichteln war eine Idee von Sam Elton-Walters, Blogger und Podcast-Produzent aus dem Ort Hamilton, in der Nähe der Großstadt Auckland. „Es begann mit einer Idee und war innerhalb von zehn Minuten gebaut“, berichtete er im Jahr 2010 über die Anfänge.
Soooo, this is one corner of the Storehouse. We’re running out of room due to your amazing generosity. ? ^Libby#NZSecretSanta pic.twitter.com/sN3i9pQQkv
— NZ Secret Santa (@nzsecretsanta) 8. Dezember 2017
Als immer mehr Menschen am Wichteln teilnehmen wollte, brauchte Elton-Walters dann aber Unterstützung bei der Verteilung der Geschenke. Er fand sie bei der staatlichen Post Neuseelands: „Die Logistik, die Technologie und das Zustellnetz waren alles Dinge, die wir hatten. Es passte einfach perfekt“, sagt Postsprecherin Amanda Broatch.
„Kleiner Engel“
Die Post erhält nun jedes Jahr tausende Wichtelpakete und verteilt sie anonym an die Empfänger im ganzen Land. Sie sorgt auch dafür, dass ein Teilnehmer, dessen Wichtel kein Geschenk einsendet, stattdessen ein Geschenk von einem Sponsor bekommt. Rund neun Prozent der Angemeldeten überlegen es sich anders, heißt es. Geschenke, die für einen Nicht-Einsender bestimmt waren, werden an wohltätige Organisationen gespendet.
THANK YOU SO MUCH to my #nzsecretsanta – what a beautiful personal gift, merry christmas whoever you are! pic.twitter.com/7CM4xsmX4m
— ALEISHA AMOHIA (@aleishaamohia) 24. Dezember 2016
Das Jahr nach der Geburt seiner Tochter war eins mit viele Höhen und Tiefen für Andrew Frame. Während er sich noch daran gewöhnte, Vater zu sein, verlor er seinen eigenen Vater. Seine Trauer über den Verlust schrieb er in einem Internet-Blog nieder. „Wer immer mein Wichtel in jenem Jahr war, er muss alle meine mehr als 80 Blogeinträge zu dieser Zeit durchgelesen und den Eintrag gefunden haben, in dem ich über den Tod meines Vaters geschrieben habe“, erzählt er.
Im allerletzten Absatz des Artikels fand der geheime Wichtel dann die Stelle, an der Frame schrieb, sein Vater habe nicht einmal mehr die Möglichkeit gehabt, seiner neugeborenen Enkelin ein Paar Engelsflügel zu basteln. Das habe er fest vorgehabt, sie sei doch sein „kleiner Engel“ gewesen. Als er am folgenden Weihnachten dann sein Wichtelpaket öffnete, kamen ihm die Tränen.
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