Durch das Tal der Tränen kommen – Ein Gespräch mit einer Luxemburger Trauerbegleiterin

Durch das Tal der Tränen kommen – Ein Gespräch mit einer Luxemburger Trauerbegleiterin

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„Der Tod gehört zum Leben dazu“, heißt es. Und zum Tod gehört die Trauer. Jeder von uns war schon mal davon betroffen. Das Tageblatt hat mit der Diplompsychologin, Psychotherapeutin und Trauerbegleiterin Aline Watry über das Thema gesprochen.

Lesen Sie zum Thema auch unseren Bericht „Jeden Tag sterben elf Menschen in Luxemburg.“

Tageblatt: Wie definieren Sie Trauer?

Aline Watry: Es handelt sich dabei um eine normale Reaktion auf einen Verlust. Diese kann sich durch Gefühle wie Wut, Trauer oder sogar Freude äußern. Auch Gedanken gehören zur Trauer dazu, ebenso wie körperliche Reaktionen. Jede Trauer ist individuell. Sie hängt u.a. von der Persönlichkeit, dem sozialen und kulturellen Umfeld und der Erfahrung ab.

Bei Trauer spricht man von verschiedenen Phasen. Welche sind es?

ALINE WATRY

Aline Watry ist Diplompsychologin, Psychotherapeutin und Trauerbegleiterin. Nach einem Studium der Neuropsychologie an der „Université catholique de Louvain“ (UCL) in Belgien arbeitete sie zum Beispiel für die Vereinigung „Yolande“ aus Betzdorf und besitzt als Psychotherapeutin u.a. eine Praxis in Ettelbrück. Seit 2008 arbeitet sie zudem für das „Institut fir psychologesch Gesondheetsfërderung“ in Bartringen.

Das hängt ganz von der Theorie ab, die man anwendet. Denn viele Wissenschaftler haben sich mit der Frage auseinandergesetzt und eine eigene Theorie dazu ausgearbeitet.

Ich persönlich befürworte die Phasen-Theorie der Deutschen Verena Kast. Zuerst befindet man sich nach einem Verlust in einem Schock-Zustand. Man glaubt oft nicht, was passiert ist. Es folgt ein Gefühlschaos. Dann kommt die Phase „Suche und Finden“. Sie führt zur Erneuerung. Schlussendlich stellt man einen neuen Bezug zu sich selbst und der Welt her. Man definiert neue Ziele.

Der US-Arzt und Trauerforscher William Worden seinerseits spricht nicht von Phasen, sondern von „Traueraufgaben“. Zuerst gilt es, die Realität anzuerkennen, dann durchlebt man den Trennungsschmerz, ehe man die neue Lage verinnerlicht. Am Ende entwickelt der Trauernde eine neue Identität. Das Modell von Worden hat den Vorteil, dass es dynamischer als viele andere ist.

Nicht jeder macht aber alle Trauer-Phasen mit. Auch können sie unterschiedlich lang sein. Und: Einige Phasen können regelmäßig zurückkommen, z.B. bei Geburtstagen, an denen man an den Verstorbenen erinnert wird. Im Prinzip werden aber immer alle Etappen durchlaufen. Wenn man in einer Phase blockiert ist, kann professionelle Hilfe notwendig werden.

Wie kann man seine Trauer aber nun bewältigen?

Jeder Mensch hat Selbstheilungskräfte. In schwierigen Lagen sind wir fähig, die notwendigen Ressourcen zu bündeln, um daraus herauszukommen. Aber auch der Spruch „Zeit heilt alle Wunden“ ist wahr. Die Trauer ist ein Prozess, der sich mit der Zeit verändert. In jedem Fall soll sich der Betroffene aber mit seiner Trauer auseinandersetzen. Verdrängung hilft ihm nicht weiter. Er muss sich auf seine eigenen Bedürfnisse (u.a. Schlaf, Ruhe, Arbeit …) konzentrieren dürfen. Kinder können indes als Motivator wirken, um die Trauer schneller und effizienter zu „verdauen“.

Bei älteren Menschen, die lange zusammengelebt haben, bedeutet der Tod des Partners häufig den Verlust des eigenen Lebensmutes. Das stellt ein Problem dar, vor allem wenn die betroffene Person schwer krank ist. Jede Person hat ihre eigene Strategie bei der Trauerbewältigung. Die Fähigkeit, über den Verstorbenen reden zu können, hilft aber sicherlich. Auch Rituale und die Überzeugung, dass der Tote irgendwo weiterexistiert, können helfen, mit der schwierigen Situation umzugehen. Und letzten Endes ist es wichtig, sich mit Leuten zu umgeben, die man kennt, die einen kennen und denen man vertraut.

Trauert man anders um Familienmitglieder als um Freunde, Tiere oder gar Objekte?

Die Verbindung zwischen dem Verstorbenen und dem Überlebenden ist wichtig. Das gilt auch für Tiere, die als Familienmitglied angesehen werden können. Es kann durchaus sein, dass der Verlust eines Jugendfreundes, den man regelmäßig traf, einen Betroffenen mit größerer Trauer erfüllt als der Tod eines Bruders, den man nur einmal im Jahr sah.
In diesem Zusammenhang kann auch das Ableben von Tieren einem richtig nahegehen. Und sogar der Verlust eines Objektes kann wehtun, zumal wenn es sich um etwas handelt, zu dem eine starke emotionale Verbindung bestand oder woran Erinnerungen hängen. Bei Objekten ist die Trauer aber im Regelfall kürzer. Man durchläuft nicht alle Phasen.

Wer kann dem Trauernden helfen?

Zuerst er selber. Der Betroffene weiß in der Regel, was gut für ihn ist. Er durchläuft immer einen internen Prozess, der ihn aus seiner misslichen Lage befreit.

Aber auch das Umfeld spielt eine bedeutende Rolle. Der zwischenmenschliche Kontakt ist wichtig. So soll man einer Person in Trauer seine Hilfe anbieten, sich aber nicht aufdrängen. Vor allem aber ist es wichtig, zuzuhören und einfach da zu sein. Der Betroffene fühlt sich dann weniger allein. Ob diese Unterstützung von Familienmitgliedern kommt oder von Freunden, Nachbarn usw., ist egal. Häufig ist bei einem Verlust der Rest der Familie ebenfalls mit großer Trauer belastet, sodass eine gegenseitige Hilfe schwierig ist.

Man muss aber aufpassen und mit der gebotenen Sensibilität vorgehen. Nicht jeder Trauernde befindet sich zum gleichen Zeitpunkt in der gleichen Trauerphase. Da kann es zu Missverständnissen kommen.

Ab wann ist professionelle Hilfe notwendig?

Eines gleich vorweg: Es gibt keine Grenze zwischen „normaler“ und krankhafter (pathologischer) Trauer. Alles hängt von der Person, die trauert, ab. Wenn jemand nun aber nach einem Jahr noch immer in der ersten Trauer-Phase feststeckt oder wenn er wegen seines andauernden Trauerzustandes seine Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen, Trinken …) vernachlässigt, wird es Zeit, einen Experten zu Hilfe zu ziehen. Oft sind es Personen aus dem Umfeld oder gar Ärzte (z.B. bei Selbstverstümmelungen, Selbstmordgedanken usw.), die Alarm schlagen.

Der Trauerbegleiter, der dann hilft, kann ein Seelsorger sein, ein Psychotherapeut oder bei schlimmen Ereignissen wie einem Unfall gar ein Traumatherapeut. In manchen Fällen ist auch die Intervention eines Psychiaters notwendig, u.a. wenn eine medikamentöse Behandlung nötig wird.

Man kann also nicht genau sagen, ab wann psychologische Hilfe notwendig wird?

Nein, alles hängt vom „Patienten“ ab. Es gibt lediglich Risikofaktoren, die eine pathologische Trauer fördern können. Dazu gehört der plötzliche Tod, z.B. durch einen Unfall oder eine extrem kurze Krankheit, der Tod durch Gewalteinwirkung oder der Verlust eines Kindes. Wenn sich Sterbefälle häufen, kann dies die Trauerbewältigung ebenfalls erschweren.

Welche Rolle spielen Rituale und Symbole bei der Trauerbewältigung?

Jede Kultur, Religion oder gar Familie hat ihre eigenen Rituale. Ein Begräbnis hat immer eine Symbolik. Die Aufbahrung des Toten z.B. ermöglicht es, von ihm Abschied zu nehmen. Damit beginnt bereits der Trauerprozess. Allerheiligen und Allerseelen spielen hier auch eine wichtige Rolle.

Aber auch kleine Gesten wie das Hinstellen eines leeren Tellers und/oder Glases auf einen Festtisch, das Aufhängen von Fotos, eine Reise an den Lieblingsort des Verblichenen … haben Symbolkraft und helfen bei der Bewältigung des Verlustes. Jeder muss da seine eigene Taktik finden.

Rituale und Symbole helfen dabei, ein neues Leben zu beginnen und das Erlebte zu verarbeiten. Symbole geben dem Tod, der für Sterbliche nur schwer zu verstehen ist, eine Gestalt. Die Rituale ihrerseits helfen, die Lage strukturierter darzustellen und so aus dem Gefühlschaos, das der Tod bewirkt, herauszukommen.

Sie sprachen auch von körperlichen Reaktionen. Welche sind das?

Das ist von Person zu Person unterschiedlich. Die häufigsten Symptome sind Schlafstörungen, Nervosität, Wut, Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit und – u.a. bei Kindern – Schmerzen.

Die Trauer schwächt das Immunsystem. Man hat beobachtet, dass Personen, die einen Verlust erlitten haben, in der akuten Phase anfälliger für Krankheiten sind.

Wie lange dauert eine Trauerzeit?

Da gibt es keine verbindlichen Angaben. Bei einigen ist sie kürzer, bei anderen länger. Ich rate immer: „Geben Sie sich ein Trauerjahr.“ Warum? Weil man dann alle Jahreszeiten, Feste und andere Situationen einmal durchlebt hat. Die Trauer selbst endet aber nie. Sie wird mit der Zeit aber weniger omnipräsent und man lernt, damit umzugehen.

Heutzutage gibt es aber immer mehr Menschen, die in unserer schnelllebigen, oberflächlichen Gesellschaft mit ihren Gefühlen nicht mehr umgehen können und sie teilweise sogar nicht mehr erkennen. Die Angst vor dem „Anormalen“ überwiegt. Das ist schade. Deshalb mein Tipp: Man soll sich seinen Gefühlen immer stellen. „Anormal“ gibt es da nicht.

Welche Anlaufstellen gibt es für Trauernde hierzulande?

Da fällt mir zuerst Omega 90 ein. Deren Mitarbeiter haben sich bereits vor vielen Jahren die Trauerbegleitung auf die Fahne geschrieben und organisieren auch Kurse für Menschen, die Trauerbegleiter werden wollen. Beim Luxemburger Roten Kreuz gibt es indes „Psy Jeunes“ und „Waiseneltern“. Im Süden des Landes wurde die Vereinigung „Trauerwee“ gegründet. Aber auch die Pfarrzentren sind häufige Anlaufstellen für Menschen in Trauer. Ich habe aber sicherlich noch einige Stellen vergessen. Viele Therapeuten bieten nämlich auch eine Trauerbegleitung an. Der Trauerbegleiter ist kein geschützter Beruf. Es handelt sich lediglich um eine Spezialisierung.

Letzte Frage: Sie sind ja Trauerbegleiterin und werden auf diese Weise mit dem Elend anderer Menschen konfrontiert. Wie gehen Sie damit um?

Man muss Grenzen setzen und seine eigenen Grenzen kennen. Zwei oder drei Trauerfälle am Tag wären mir zu viel. Der Therapeut muss sich aber – genau wie in anderen Berufen, z.B. im medizinischen Bereich – ausreichend Freiräume schaffen. Sportliche Aktivitäten, Hobbys, der Kontakt mit der Natur und anderen Menschen … können helfen, den Kopf freizubekommen.

Dann hilft es auch, sich mit anderen Professionellen über seine Arbeit auszutauschen. Das geht nur mit Kollegen. Mit anderen kann man nicht darüber reden, weil man der Schweigepflicht unterliegt.

Jeden Tag sterben in Luxemburg elf Menschen

Jacques Zeyen
10. August 2018 - 22.40

Trauerbegleiterin. Na ja. Was es nicht alles gibt. Wie konnten wir so lange überleben. Ohne Trauerbegleiterin und Psychologen.