Differdingen im Zweiten Weltkrieg: Von „Russenbaracken“ und „Ostarbeitern“

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Das Thema Zwangsarbeit interessierte nach dem Zweiten Weltkrieg hierzulande kaum noch die Öffentlichkeit. Luxemburg beschäftigte sich, und das bis heute, mit Besatzung, Resistenz, Zwangsrekrutierung und Kollaboration. Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter verschwanden ja auch nach den Kriegsjahren.

Von Roby Fleischhauer

Eigentlich behielten nur noch die etwas älteren Einwohner der Städte im Süden des Landes die „Russen“ in Erinnerung. Dass hier Menschen, auch 12-jährige Kinder, aus ihren Dörfern verschleppt wurden und in Luxemburger Schmelzen Sklavenarbeit in KZ-ähnlichen Verhältnissen verrichteten, blieb kaum in der kollektiven Erinnerung haften.
Dr. Inna Ganschow von der Uni Luxemburg hat sich mit dem Thema der russischen Kriegsgefangenen in Luxemburg jetzt nach mehr als 70 Jahren beschäftigt. Insgesamt 3.500 Leute aus den russischen Republiken, welche in den verschiedensten Betrieben, auch in der Landwirtschaft, eingesetzt worden waren, mussten nach dem Krieg in die Sowjetunion repatriiert werden.

Immerhin waren bereits in den Jahren 1942 und 1943 hunderte sogenannten „Ostarbeiter“ nach Luxemburg, insbesondere zu den Stahlwerken im Süden, zwangsdeportiert worden. „Ostarbeiter“, weil es sich zumeist um Einwohner Russlands, der Ukraine und der von den Nazis besetzten Ostländer handelte.

Als im Jahr 1942 die Siege der Nazi-Truppen seltener wurden, wurde die Industrie, besonders der Stahlindustrie, angewiesen, ein Maximum an Kriegsmaterial zu produzieren. Die Stahlwerke im Süden unseres Landes standen unter deutscher Führung und mussten nach anfänglichem Zögern jetzt für die Rüstung produzieren, was das Zeug hielt. Dazu fehlten jedoch die einheimischen Arbeitskräfte. Nun wurden auch Frauen (bis zu 15 Prozent) und Grenzgänger in den Hüttenbetrieben eingesetzt. Doch es fehlte immer noch an Arbeitskräften. „Ostarbeiter“, zumeist russische oder polnische Gefangene und KZ-Insassen, kamen zum Einsatz. Im Dezember 1942 erreichten 950 davon Luxemburg.

Die Jüngsten warenkaum 13 Jahre alt

In Differdingen wurden sie in vom Werk errichteten Baracken untergebracht, den „Russenbaracken“, wie sie in der Bevölkerung genannt wurden. Man versuchte Kleider und Bettwäsche für die Leute zu finden, denn sie hatten nichts. Die Jüngsten waren kaum einmal 13 Jahre alt. Für die Nazis war das Menschenmaterial, das nach Verschleiß jederzeit ersetzt werden konnte, frei nach dem Ausspruch von Hermann Göring: „Die deutschen Facharbeiter gehören in die Rüstung, Schippen und Steineklopfen ist nicht ihre Aufgabe, dafür ist der Russe da!“

Viele Einwohner versuchten ihnen Essbares zuzustecken oder ihnen Hilfe zukommen zu lassen. Gilbert Schmit schreibt im Zentenariumsbuch der Stadt Differdingen unter dem Titel „Schmiere fir russesch Zwangsaarbechter“: „Am Krich si mär Kanner sonndes mat Gebeesseschmieren an d’Russelager niewt der Hadir gaang an hunn – wann net grad e besonnesch äifrege Poste Waach gehalen huet – den hongrege Gefaangenen se ginn. Männer wéi Fraen – muenechmol waren se nach Kanner – waren zu engem gudden Deel vun de Preise ganz einfach aus hiren Dierfer verschleeft ginn a sinn als Zwangsaarbechter agesat ginn.“

Der ehemalige Tageblatt-Journalist Jean-Marie Backes, dessen Vater als Beschäftigter der Hadir in der Gärtnerei des Schlosses arbeitete, schreibt in einer seiner Publikationen, dass auch etliche Zwangsarbeiter in den Gemüsegärten des Schlosses beschäftigt waren. Die Luxemburger Arbeiter versteckten belegte Butterbrote zwischen den Gemüsereihen, um den hungernden Zwangsarbeitern etwas Essen zukommen zu lassen. Diese unerlaubte Unterstützung einer „minderwertigen Rasse“ wurde, falls man dabei erwischt wurde, bestraft: sieben Monate Gefängnis gab es für ein Butterbrot, 1.500 Franken für eine Zigarette. Im Übrigen wurde den Arbeitern aus dem Osten nur so viel Nahrung zugestanden, wie die sowjetischen Gefangenen in Deutschland erhielten, also zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

Es gab übrigens auch direkte Verbindungen zur Differdinger Bevölkerung. Etliche versteckten Russen, die aus dem Lager geflüchtet waren, in ihrem Haus, bis der Krieg vorbei war, weil anzunehmen war, dass die russischen Zwangsarbeiter später umgebracht werden sollten. Die Differdinger Nicolas Kremer und Alfred Agostini befreiten im September 1944, als die Lage für die Gefangenen brenzlig wurde, an die zehn Russen aus dem Lager und versteckten sie. Andere Differdinger sorgten dafür, dass insgesamt 68 davon das Ende des Krieges in einem Versteck abwarten konnten. Zwei Angestellte der Eisenbahn in Differdingen versteckten eine ganze Gruppe junger russischer Gefangener in einem Eisenbahnwaggon, der sich auf einem Abstellgleis befand, bis die letzten Nazis verschwunden waren.

Auf einer deutschen Internetseite über die Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg fanden wir einen Beitrag über Astrowko Bronislawa Michajlsowa, die aus einem Dorf bei Minsk stammte. Als Zwölfjährige wurde sie von den Nazis festgenommen und direkt nach Differdingen deportiert. Trotz ihres jungen Alters wurde sie zunächst beim Straßenbau und dann im „Differdinger Stahlwerk A.G.“ eingesetzt.

Sie berichtet von „Polizisten“, die sich gegenüber den Gefangenen wie „Tiere“ benahmen. Das Lager war von einem tiefen Graben umgeben und einer doppelten Reihe Stacheldraht. Zu essen gab es trotz der schweren Arbeit nur eine dünne Suppe. „Morgens gingen wir auf nüchternem Magen zur Arbeit. Niemand verpflegte uns. Mittags gab man uns einen Liter Futterkohl, der ungewaschen war. In der Suppe schwammen Würmer und Ungeziefer. Astrowko Bronislawa Michajlsowa litt aber nicht nur Hunger, sondern hatte auch schreckliches Heimweh. „Ich sehnte mich nach unserem Birkenbaum. Und in Luxemburg mag man Rosen. Bei vielen Häusern gibt es Beete.“

Bewacht vom „Werkschutz“

Bewacht wurden die Zwangsarbeiter vom uniformierten „Werkschutz“, wie die Hüttenpolizisten unter dem Nazijoch bezeichnet wurden. Der Historiker Marc Schoentgen hat sich in „Terres Rouges, histoire de la sidérurgie luxembourgeoise“ mit der Rolle dieser Nazi-Organisation beschäftigt. „Diente die frühere Hüttenpolizei hauptsächlich der Sicherheit im Betrieb, so handelte es sich beim Werkschutz ganz klar um ein politisches Organ, das auch für die politische Überwachung der Belegschaft zuständig war.“ Man stellte vor allem Leute ein, die sich bereits in Nazi-Organisationen bewährt hatten. Der große Vorteil eines derartigen Postens war, dass man von schwerer körperlicher Arbeit befreit war, dass man in den Beamtenstand übernommen wurde, dass man Macht über frühere Arbeitskollegen und sogar über frühere Vorgesetzte erhielt und vor allem, dass man nicht an die Front musste. Auch etliche Luxemburger gehörten dem „Werkschutz“ an. Ein gewisser Giese leitete den Werkschutz in Differdingen. Er wurde 1944 vom Oberstleutnant von Groeling abgelöst. Zur Ausbildung des Werkschutzes gehörte auch die Art und Weise, wie man mit Ostarbeitern umzugehen hatte.

Als sich die Niederlage der Deutschen mehr und mehr abzeichnete, schlug die Stimmung um. Man erwiderte im Werk den Hitlergruß der Werkschützer nicht mehr, der „houere Preiss“ flog ihnen um die Ohren, man drohte ihnen mit Vergeltung nach der Niederlage der Nazis, patriotische Graffiti wurden an die Wände des Betriebes gemalt und man solidarisierte sich mit den Zwangsarbeitern. Die Werkschutzmänner, derer man nach dem Krieg habhaft werden konnte, kamen mit relativ milden Strafen davon. Sie wurden, wie Marc Schoentgen schreibt, bei Gericht verurteilt, weil sie eine „prodeutsche Gesinnung“ an den Tag gelegt hatten, und nicht wegen ihrer Schikanen und Denunziationen.
Lange gab es noch Briefwechsel zwischen Differdinger Familien und früheren Zwangsarbeitern. Es gab damals auch Heiraten zwischen Russinnen und Luxemburgern. Und es gab damals auch russische Gräber auf dem Differdinger Friedhof. Mahnmale eines Kapitels in der Geschichte unserer Stahlindustrie, das nicht unter den Tisch gekehrt werden sollte.

roger wohlfart
11. August 2018 - 23.06

Da gab es welche, die am Anfang Mitläufer waren und sich gerne gegen Kriegsende als grosse Resistlenzer ausgeben und darüber noch ein Buch schrieben. Darin kein Wort über russische Zwangsarbeiter, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Baracken untergebracht waren. Keine Silbe auch über Kindersklavenarbeit. Wo haben diese sogenannten Spätpatrioten eigentlich gelebt? Vermutlich waren sie zu sehr mit sich beschäftigt und dami, wie sie den Kopf aus der Schlinge bekamen. Ein dunkles Kapitel unserer rezenten Geschichte. Da bedarf es noch einer grundlegenden, objektiven und gründlichen Aufarbeitung.