„Die Welt hat nichts dazugelernt“ – Der KZ-Überlebende Gerd Klestadt über den Rechtsextremismus von heute

„Die Welt hat nichts dazugelernt“ – Der KZ-Überlebende Gerd Klestadt über den Rechtsextremismus von heute

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„Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“, lautet ein Zitat des spanischen Schriftstellers und Philosophen George Santayana. Gerd Klestadt ist einer der Letzten, die diese Erinnerung noch aus eigener Erfahrung weitergeben können. Er wurde im Alter von zwölf Jahren mit seiner Familie in das deutsche Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Dort, wo auch Anne Frank und ihre Schwester Margot starben. Bis heute hat er über 16.000 Schülern von den Tagen im KZ erzählt.

Mit fester Stimme erzählt der 86-Jährige seine Geschichte. Seine rechte Hand, an der ein großer Siegelring prangt, wirkt unruhig – das Erzählen mache ihm allerdings schon lange nichts mehr aus. Es sei zur Routine geworden.

Wenn er davon erzählt, wie er zusammen mit unzähligen anderen in einem Viehwaggon nach Bergen-Belsen deportiert wurde, klingen seine Schilderungen, als spiele sich alles noch einmal vor seinem inneren Auge ab: Wie das Fass, in dem alle in dem Waggon ihre Notdurft verrichten, umfällt und sich dessen Inhalt über den Boden und die darauf liegenden Leichen verteilt.

Im KZ wird Gerd Klestadt, der für sein Alter groß gewachsen ist, auf 16 Jahre geschätzt. Er kommt mit seinem Vater ins Männer-, seine Mutter und sein drei Jahre jüngerer Bruder ins Frauenlager. Nachts legen er und sein Vater stets ihre Decken übereinander und schlafen „Körper an Körper“ aneinander, um sich zu wärmen. Jeden Tag geht um 4 Uhr morgens das Licht an. Sie müssen zur Zählung.

Es ging ums reine Überleben

„Eines Morgens – am 4. Februar 1945 –will ich meinen Vater wie immer wecken. Doch da bemerke ich, dass er tot ist. Von da an bin ich auf mich alleine gestellt.“

„Doch da bemerke ich, dass mein Vater tot ist. Von da an bin ich auf mich alleine gestellt.“

Der Tod seines Vaters hat ihm vielleicht das Leben gerettet. „Meine Mutter, mit der ich manchmal kommunizieren konnte, hat mir geraten, den Futternapf, den Löffel, die Decke und die Schuhe meines Vaters zu behalten.“ Von da an hat der damals Zwölfjährige immer ein bisschen mehr zu essen als die anderen. „Bei der Essensverteilung habe ich meinen Napf mit der linken, den meines Vaters mit der rechten Hand hingehalten. Das ist nie aufgefallen. Manchmal hat mich ein Junge gefragt, ob ich ihm etwas abgeben kann.“ Das habe er dann auch getan. Trotzdem habe er in der Zeit im KZ keine Freundschaften geschlossen. „Jean-Jacques Rousseau nennt das ‚retour à la nature‘. Es ging ums reine Überleben.“

Wie er das damals ausgehalten habe, sei schwer zu beantworten: „Mein Unterbewusstsein hat mir gesagt, dass ich überleben muss. Ich habe versucht, zu essen, wann immer ich essen konnte, und so wenig zu arbeiten wie nur möglich.“ Gerd Klestadts Aufgabe im KZ ist es, Schuhe auseinanderzunehmen. Die Sohlen müssen vom Rest getrennt werden. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Die Schuhe stammen von den Opfern, die bereits in zahlreichen Konzentrationslagern, darunter Auschwitz, ihr Leben lassen mussten.
Am 7. April 1945, acht Tage, bevor das KZ Bergen-Belsen von Amerikanern befreit wird, setzen die Nazis Gerd Klestadt per Zufall in denselben Zug wie seine Mutter und seinen Bruder. „Ich erinnere mich noch gut daran, dass es dort Rüben und Rosenkohl zu essen gab. Wer mir dieses Gemüse heute vorsetzt, bezeichne ich als den schlechtesten Koch der Welt“, witzelt er.

25.000 Juden auf dem Weg nach Theresienstadt

„Mein Unterbewusstsein hat mir gesagt, dass ich überleben muss“

Der Zug soll 25.000 Juden ins KZ Theresienstadt bringen, um sie dort zu vergasen. Da allerdings eine Brücke zerbombt wurde, muss der Zug stehen bleiben. Sechs Tage nach seiner Abfahrt wird er von einer amerikanischen Patrouille gefunden und befreit. Der Kommandant dieser Patrouille ist Frank Towers – ein weiterer Held im Leben von Gerd Klestadt.

1998 hat er das Glück, seinen Befreier wiedersehen zu können. Die Enkeltochter von General Patton, Helen Patton, hat ihn über den Aufenthalt von Frank Towers in Paris informiert. „Um 5 Uhr morgens nahm ich den Zug und fuhr nach Paris. Als ich Towers, der damals aktiv nach Überlebenden aus diesem Zug gesucht hatte, gefunden hatte, trafen wir uns und machten zu allererst ein gemeinsames Selfie.“ Danach habe der Veteran über Atemnot geklagt und das Bewusstsein verloren, woraufhin Klestadt ihm mit einer Herzmassage das Leben rettete. Eine Szene wie im Film. „Ich konnte dem, der mir mein Leben wiedergegeben hatte, das Leben retten“, ist Klestadt dankbar.

Er rettet seinem Befreier das Leben

Seine größte Heldin ist bis heute seine Mutter. Die blau-grünen Augen des lebensfrohen Mannes strahlen, als er von ihr erzählt. Das Leben nach Bergen-Belsen sei bis zu ihrem Tod aufregend und weitgehend fröhlich gewesen – als habe ihre bloße Präsenz sein Leben zusammengehalten.

Klestadt hat Landwirtschaft studiert, ist durch die Welt gereist, hat gelebt und gearbeitet. Sein Langzeitgedächtnis war viele Jahre wie ausgelöscht. 1990 stirbt seine Mutter und seine ganze Vergangenheit bricht über ihn herein. Er verfällt in tiefe Depressionen, versucht sogar sich das Leben zu nehmen. 1991 beginnt er eine Therapie und fährt die nächsten zehn Jahre lang einmal im Monat in die Niederlande, um dort – in der Sprache, die er am besten beherrscht – eine Behandlung machen zu können.

Meditation hilft Klestadt bis heute, mit dem Erlebten umzugehen. „Ich meditiere seit etwa 20 Jahren. Zum Beispiel immer am Grabstein meines Vaters, der übrigens direkt neben dem von Anne Frank und ihrer Schwester Margot steht.“

Nach Bergen-Belsen zieht es ihn immer wieder: „Ich gehe so oft es geht dahin zurück, weil es einfach ein Teil von mir ist“, sagt der KZ-Überlebende.

Eine Murmel für die Erinnerung

Klestadt begegnet im Jahr 2000 dem luxemburgischen Historiker und Geschichtslehrer Steve Kayser, dem Vater seiner Memoiren, wie er ihn nennt. Er ist es, der ihn erstmals darum bittet, seine Geschichte vor einigen seiner Schülern zu erzählen. „Ich habe zugesagt, aber es war katastrophal. Ich habe so geweint, dass ich nicht mehr weitersprechen konnte“, denkt er daran zurück.

Inzwischen habe er das Erlebte über 250 Mal geschildert, starke Emotionen sind da nicht mehr im Spiel. „Jedem Einzelnen der 16.000 Schüler habe ich eine Murmel geschenkt.“
Die Murmel repräsentiert für Gerd Klestadt die Welt, die Farben in der kleinen Glaskugel stehen für die verschiedenen Nationen, die zusammenleben. Sie soll die Schüler an seine Geschichte erinnern.

Rechtsextreme Tendenzen nicht ignorieren

Ihnen von seinem Schicksal zu erzählen, sieht Klestadt als seine Pflicht: „Die Jugendlichen von heute sind die Dirigenten von morgen. Wenn ich ihnen nicht erzähle, was passiert ist, passiert es noch einmal.“

Die europaweiten Tendenzen zum Rechtspopulismus findet er erschreckend: „Die Welt hat nichts dazugelernt“, sagt er mutlos und hält einen aktuellen Zeitungsartikel aus einer flandrischen Zeitung hoch. Auf der Seite sind 15 Köpfe abgebildet, die für die anstehenden Gemeindewahlen in Flandern offen sagen, dass sie Hitlers Theorien und Taten befürworten. Er liest auch einen Songtext der Rechtsrock-Band Weiße Wölfe vor, in dem Dinge vorkommen wie „10.000 Juden für ein Freudenfeuer“.

Für die Zukunft von Luxemburg sieht Klestadt schwarz. „Weil hier nicht genug darüber geredet wird“, sagt er. Ein Beispiel: Das „Zentrum fir politesch Bildung“ hat in diesem Jahr an alle Schulen des Landes Flyer verschickt, auf denen steht, dass Klestadt Vorträge vor Klassen anbietet. „Eine einzige Schule hat mich eingeladen – und das ist das französische Lyzeum in Luxemburg.“

Chemnitz und Flandern sind nur zwei Beispiele dafür, dass der Rechtsextremismus ganz in der Nähe des kleinen Großherzogtums immer mehr an Macht gewinnt. „Das können wir nicht ignorieren und wir können auch nicht hoffen, dass er vor unseren Grenzen haltmacht“, unterstreicht Klestadt, der hofft, dass nie eine extrem rechte Partei in Luxemburg in dem Ausmaß gewählt wird, dass sie in einer Regierung mitentscheiden kann.

 

J.C. KEMP
9. Oktober 2018 - 15.05

Ebenso hat die KK auch zur Nazizeit versagt, geschwiegen und der NS-Elite bei der Flucht nach Südamerika geholfen.

Nomi
9. Oktober 2018 - 12.25

Bei den Errennerungszeremonie'en vum leschten Sonndeg waren keng Jonk dobai ! Ass do net unzesetzen datt daat ob Klassen am Lycée behandelt get an dono un so'u enger Fei'er deelzehuelen !

Grober J-P.
9. Oktober 2018 - 10.40

Es wird gefährlich, wenn Politiker an die Macht kommen welche die Geschichte des eigenen Landes nicht kennen und wenn Leute diesen auch noch glauben. Wollte mal von einem gestiefelten „Lautredner“ in München erklärt haben wo denn Dachau liegen würde und was es bedeutet. Der Mensch hatte wirklich keine Ahnung, oder der IQ war so niedrig, dass er meine Frage nicht beantworten konnte.

roger wohlfart
8. Oktober 2018 - 22.40

Die Institution katholische Krche hat auf der ganzen Linie versagt und war nie eine moralische Instanz.

Grober J-P.
8. Oktober 2018 - 20.46

"Die moralische Instanz", stünde den Religionen sehr gut zu Gesicht, nicht wahr! Es scheint wie damals zu sein, da hielten die meisten Robenträger still.

Grober J-P.
8. Oktober 2018 - 20.39

Die Aufklärung tut Not an den Schulen. Über das Thema Extremismus wurde nur am Rande gelehrt. Habe nur darüber was lernen können da aus der Familie ein Onkel und eine Tante das Inferno KZ überlebt haben. Habe mal einen meiner Professoren darauf angesprochen der kannte oder wollte sich nicht auskennen. Damals wie heute wird das Thema stiefmütterlich in den Schulen behandelt, oder?

roger wohlfart
8. Oktober 2018 - 16.43

Sowohl der spanische Philosoph als Auch der KZ Überlebende Herr Klestadt haben recht. Das braune Übel beginnt wieder zu wuchern, weil es nicht bei den Wurzeln gepackt worden ist. In der ehemaligen DDR sind die Menschen von einer Diktatur in die andere gerutscht. Dort wurde die Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Die im Osten waren die Guten, die im Westen die Bösen weil es nur dort angeblich noch Überreste des NS Regimes gab. Weil die DDR Bürger niemals gelernt hatten selbständig zu denken und jahrzehntelang unterdrückt waren, ist man in den neuen Bundesländern von einem Extrem ins andere gefallen. Eine andere Ursache für das Wiederaukommen des rechten Gedankengutes ist die Vorherrschaft eines ebenso menschenverachtenden Kapitalismus wie es der Kommunismus war. Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten. Hinzu kommt ein Empfinden des Nichtverstandenwerdens, viele Menschen fühlen sich von den etablierten Parteien im Stich gelassen, die Flüchtlingswelle und die Angst vor dem Fremden und der Zukunft sind ein fruchtbarer Boden für die Saat der Demagogen und Volksaufwiegler. Es gibt so viele Faktoren, die da mitspielen, vor allem auch die sozialen Medien, viel Unwissen und vor allem eine angsteinflössende, ungewisse Zukunft. Es wäre vielleicht wichtiger und angebrachter in den Schulen die rezente Geschichte der 1930er und 40er Jahre mit all ihren Schrecken zu unterrichten als die grossen Kriegsherren der Antike zu verherrlichen. Momentan fehlt es weltweit an einer moralischen Instanz!

CESHA
8. Oktober 2018 - 16.32

Erstens: Wie stark hat sich denn der Rechtsextremismus tatsächlich verbreitet? Wenn man sieht, dass schon sogenannte "Populisten" und Menschen, die andere als linksextremistische Positionen vertreten, verallgemeinernd als "Rechtsextremisten" und "Nazis" verunglimpft werden, dann hat sich der wirkliche Rechtsextremismus in den letzten Jahren höchsten minimal vermehrt. Die grosse Gefahr sind in unserer Zeit vor allem höchst gewaltbereite linksextremistische Gruppierungen, die von manchen Politikern auch noch gefördert werden. Und der Antisemitismus trägt heute ganz klar islamistische Züge.