Die Tageblatt-Klangwelten: The Teletubbi-Hipsters of Death Metal

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Großstadtpop für den kritischen Konsumenten

ANNENMAYKANTEREIT: Schlagschatten

AnnenMayKantereit sind der bundesdeutsche Versuch, der Welt zu beweisen, dass guter deutschsprachiger Pop nicht ausschließlich aus Österreich kommt. Auf dem neuen Album „Schlagschatten“ gelingt das auch – zumindest streckenweise. Es ist Musik für Leute, die Second Hand und unverpackt kaufen und im Sommer mit einer Club Mate in der Hand Tofuwürstchen auf dem Balkon zwischen selbstgezogenen Cannabispflanzen grillen.

Die Kölner Band um Henning May, Christopher Annen und Severin Kantereit ist in der deutschen Musiklandschaft in vielerlei Hinsicht einzigartig: Groß geworden mit selbstproduzierten Live-Videos, eine außergewöhnliche Stimme des Sängers und auch noch Musiker, die ihre Instrumente beherrschen. Eigentlich eine Mischung, bei der nichts schieflaufen kann, oder?

Der studentische Authentizitätsgestus und die selbstironische Nabelschau der eigenen Belanglosigkeit treffen natürlich den Nerv der Zeit. Die Texte handeln von der Unverbindlichkeit und Bindungsunfähigkeit großstädtischer Millennials und sprechen genau die Klientel an, die zwischen 16 und 30 mit dem Erwachsenwerden hadert und sich trotzdem für zu klug hält, um den musikalischen Muntermachern von Giesinger und Co. auf den Leim zu gehen. An Wanda, Voodoo Jürgens oder den Nino aus Wien reichen die Kölner aber noch längst nicht heran.

Das Album ist solide produziert, der DIY-Aspekt und die LowFi-Qualität treten in den Hintergrund und machen einem etwas professionelleren Anstrich Platz. Die sieben (!) vorab veröffentlichten Singles sind größtenteils auch die stärksten Lieder der Platte, der Titeltrack „Schlagschatten“ ist dagegen eine bräsige Ballade, die auch eins zu eins aus der Feder von Pur stammen könnte.

Diese Qualitätsunterschiede setzen sich fort: „Schon krass“ führt eine erschütternd ehrliche Betrachtung des eigenen Drogenkonsums samt seiner Konsequenzen musikalisch versiert ins Feld, „Alle Fragen“ scheitert in seinem Anspruch, ein sphärisch tragendes Stück zu sein, auf ganzer Linie. Auch deshalb, weil die Stimme von May halt eine Motorsäge ist und kein Florett.

So laviert die gesamte Platte zwischen Genres hin und her, ist mal Pop, mal Singer-Songwriter, mal Latin, mal Balkan, die Texte mal tiefsinnig und mal Kalenderspruch – und spiegelt so die Orientierungslosigkeit, welche die Band in ihren Texten selbst besingt. Wer diese feine Ironie zu schätzen weiß, mag seinen Spaß an der Platte haben. Allen anderen seien eine Handvoll Lieder empfohlen – den Rest kann man sich getrost schenken.  Tom Haas

WERTUNG: 5/10
ANSPIELTIPPS: Schon krass, Hinter klugen Sätzen

Schakale in der Schafsherde

MEWITHOUTYOU: Untitled

MewithoutYou veröffentlichen ihr siebtes Album und eine EP. Beide heißen schön bescheiden „Untitled“. Das Gesamtwerk ergibt eine der besten Indie-Postcore-Platten des Jahres. Es ist durchaus interessant, wie früher brachiale, heute sanfter gewordene Postcore-Bands regelmäßig das etwas blutarme Genre des Indie-Rocks bereichern.

Nun veröffentlichen auch mewithoutYou eine Platte, die wie ein Hybrid aus bedrohlichem Postcore, melancholischem Indie-Rock und hymnischem Singer-Songwriter klingt – in den besten Momenten sogar innerhalb eines einzigen Songs.

Stellte sich der Vorgänger „Pale Horse“ teilweise wie eine Mischung aus Brand New und La Dispute auf, so erweitern mewithoutYou auf „(Untitled)“ ihre Klangpalette so intelligent und so überzeugend, dass das Resultat eines der wichtigsten Gitarrenalben des Jahres ergibt. „(Untitled)“ das Album ist als das lautere Pendant der ruhigeren (aber schönen) „(Untitled)“-EP angedacht. Opener „9:27a.m, 7/29“ bestätigt dies, brachial ist danach aber „Another Head For Hydra“, die anderen Lieder charakterisieren sich durch intelligent strukturierte, wunderbar instrumentierte Kompositionen, die sich im Laufe der Platte aufbäumen, manchmal kontrolliert ausbrechen und deren markante Melodieführungen dafür sorgen, dass die Platte auf Dauerrotation laufen wird.

Auf „Winter Solstice“ klingt die Band wie die Decemberists in Topform, „Tortoises All The Way Down“ bringt Reminiszenzen an das neue Album von A Perfect Circle hervor, „[dormouse sighs]“ assoziiert die Gitarren des Grunge mit einer der besten Gesangsmelodien der Platte, wogegen ein Track wie „New Wine, New Skin“ auf dem ausgezeichneten letzten Brand-New-Album ein Highlight gewesen wäre. Die Songs sind allesamt viel besser als die Summe der Vergleiche, die sie hervorrufen. Wem „Science Fiction“ von Brand New zu geschliffen und/oder verkopft war und wem „Palms“ von Thrice etwas zu seicht daherschlich, dem sei „Untitled“ anzuraten: Hier erlebt man eine Band, die ihre Spiellust zu einem schönen, dringlichen, unheilvollen Album kondensiert. Jeff Schinker

WERTUNG: 9/10

ANSPIELTIPPS: [dormouse sighs]; New Wine, New Skins; Winter Solstice; Tortoises All The Way Down

Authentisch dunkel

AFI: The Missing Man

In knapp 16 Minuten blicken AFI nostalgisch in die Vergangenheit, loten neue Ideen aus und veröffentlichen die konsistenteste Songsammlung seit dem Gothpunk-Meisterwerk „Sing the Sorrow“. Nach Letzterem driftete die Band etwas ab und veröffentlichte mit „Decemberunderground“ und „Crash Love“ zwei Platten, die sich mit Pop-Punk und The-Cure-Anleihen etwas verzettelten. Die beiden darauffolgenden Alben waren zwar nicht durchgehend ausgezeichnet, hatten aber ausreichend Highlights, um den Fan wieder versöhnlich zu stimmen.

Mit der neuen EP „The Missing Man“ zeigen AFI, dass sie wieder zu den relevanteren Acts des Genres zählen möchten. „Trash Bat“ und das vorab veröffentlichte „Get Dark“ sind schnelle, schlagzeug- und gitarrenorientierte Punkbrecher mit Call-Response-Chorus und einem schnellen Solo von Gitarrist Jade Puget, die an die frühen Erfolgstage anknüpfen, auf den restlichen Songs lotet die Band ihre rezentere stilistische Ausrichtung aus und setzt neue Akzente: „The Missing Man“ stimmt mit akustischer Gitarre und gepitchten Vocals eine dunkle Ballade an, „Break Angels“ ist hymnisch und peitschend, „Back Into the Sun“ poppiger Postcore. Bleibt zu hoffen, dass das nächste Album hält, was diese EP verspricht.  Jeff Schinker

WERTUNG: 8/10

ANSPIELTIPPS:  Get Dark, Break Angels, Trash Bat

Island bleibt WM-tauglich

SVARTIDAUDI: Revelations Of The Red Sword

Nicht nur sportlich hat sich Island in den letzten Jahren (mancher Luxemburger wird sagen: leider …) auf der Weltkarte platziert, sondern auch in puncto Black und Death Metal. Sinmara, Zhrine, Almyrkvi, Misþyrming oder Svartidaudi gehören zur Speerspitze der isländischen Black/Death-Szene und vor allem Letztere würden mit den bekannten musikalischen Exportschlagern des Landes, Björk und Sigur Rós, den Boden wischen. „Revelations Of The Red Sword“ ist die lange erwartete zweite Platte des Abrisskommandos mit dem lustig klingenden Namen. Das Trio hat die vom Debüt und diversen EPs bekannte Rezeptur verfeinert und statt nonstop Chaos, Wut und Raserei wird gerne mal der Fuß vom Gas genommen und es wird mehr Wert auf ausgeklügelte Leads gelegt als sonst.

Gitarrist Þórir Garðarsson schüttelt sich haufenweise fantastische Riffs aus den Ärmeln, die zugleich hypnotisch, vertrackt, böse und doch seltsam melodiös klingen. Refrains sind wie gewohnt für Teletubbie-Zurückwinker, jeder Hördurchlauf offenbart Neues, was zeigt, dass hier keineswegs Stümper am Werk sind. Sturla Viðar schreit sich dazu die pechschwarze Seele aus dem Leib und die Drums treiben die Tracks ebenso gnadenlos wie variabel voran. Absolute Über-Titel wie „The Perpetual Nothing“ (vom Debüt; im Übrigen mein Lieblings-„Hass-Song“) oder „Impotent Solar Phallus“ (ja, Sie haben richtig gelesen) fehlen zwar, dafür sind alle Stücke ohne Ausnahme gleich stark. Steve Rommes

WERTUNG: 9/10

ANSPIELTIPPS: The Howling Cynocephali, Wolves …, Aureum Lux