„Die Digitalisierung wirft uns zurück ins Mittelalter“ – Ein Ökonom über die schädlichen Effekte des Internets

„Die Digitalisierung wirft uns zurück ins Mittelalter“ – Ein Ökonom über die schädlichen Effekte des Internets

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Zeitknappheit, Ausbeutung von Ressourcen, Verlust von Interaktionsfähigkeiten: Der Ökonom Niko Paech befürchtet, dass die Digitalisierung der Menschheit großen Schaden zufügt. Ein Interview.

Die Wochenzeitung Die Zeit beschreibt ihn als „Deutschlands berühmtesten und radikalsten Wachstumskritiker“: Niko Paech, Ökonom an der Universität Siegen. Der 58-Jährige befürchtet, dass die Digitalisierung wie ein alles befeuernder Katalysator wirkt, der den Ressourcenverbrauch ins Unermessliche steigert – und unsere sozialen Fähigkeiten verkümmern lässt. Paech sagt: Das Internet wirft uns zurück ins finstere Mittelalter.

Niko Paech (58) ist außerplanmäßiger Professor für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen in Deutschland

Tageblatt: Herr Paech, wie oft haben Sie heute schon auf Ihr Smartphone geschaut?

Niko Paech: Gar nicht. Ich habe einen Festnetzanschluss und nutze einen alten Computer, um E-Mails zu empfangen und zu versenden. Ein Smartphone oder Mobiltelefon lehne ich ab.

Sie sagen, dass wir durch das Internet ins Mittelalter zurückgeworfen wurden. Wie ist das zu verstehen?

Im Mittelalter hatten wir Angst vor der Strafe Gottes und vor einer Fehlernte. Heute fürchten wir den Zusammenbruch der Server oder dass Facebook ausfallen könnte, weil uns das nicht minder ins Mark treffen würde. Wir sind wieder so abhängig wie vor 500 Jahren – nur auf einem technisch anderen Niveau. Wir sind aus dem Mittelalter aufgebrochen, um kraft des technischen Fortschritts die Schicksalsabhängigkeit zu überwinden. Jetzt haben wir einen technischen Fortschritt, dem wir schicksalhaft ausgeliefert sind.

Aber wenn man die sozialen Medien nicht mehr nutzt, heißt das doch nicht, dass man verhungert und stirbt.

Nein, aber das ist es ja gerade. Obwohl man Smartphones nicht essen, trinken oder anziehen kann, sind wir so abhängig davon, dass wir ohne sie kaum mehr unser soziales Leben meistern können.

Verkümmern wir wegen Facebook, Instagram und Snapchat in unseren sozialen Fähigkeiten?

Ja. Es gehört nun einmal zu den anthropologischen Unabänderlichkeiten, dass der Mensch ein übendes Wesen ist. Was er nicht geübt hat – oder was er durch Ersatzhandlungen wie zum Beispiel dem Kommunizieren über das Internet aus seinem Repertoire gedrängt hat –, kann er nicht beherrschen. Kein Mensch kann sich teilen, also dieselbe Zeit, die er digitalen Handlungen widmet, ein zweites Mal für analoge Handlungen verwenden.

Tolle Autos, schicke Kleider, große Häuser – dass sich Menschen inszenieren gab es schon vorher. Was ist der Unterschied zu heute?

Statussymbole werden durch Social Media nicht obsolet oder ersetzt, sondern verstärkt. Hinzu kommt, dass beliebigen Aufenthaltsorten, Situationen und Begegnungen, die vorher banal waren, plötzlich ein tieferer Sinn eingehaucht wird. Sie werden in Echtzeit übertragen und als individuelles Gesamtkunstwerk inszeniert. In der längst verfestigten Ökonomie der Aufmerksamkeit ist Beachtung fast so essenziell wie Geld.

Wenn ein Foodblogger ein Filmchen über sein Frühstück auf Instagram postet, ist das also schädlich für die Wirtschaft?

Zeit und menschliche Aufmerksamkeit – beides extrem knappe Güter – werden dadurch anderen Verwendungen entzogen: der Entspannung, der direkten Kommunikation, der zeitaufwendig zu erlangenden Produktivität, Geschicklichkeit und Fehlerfreiheit, der Schule und Ausbildung.

30 Jahre WWW: Das Netz und Luxemburg

„Klick!“ Am 12. März 1989 schlug der Brite Tim Berners-Lee im Forschungszentrum CERN ein System vor, mit dem sich Wissenschaftler einfacher über das Internet austauschen können: Das WWW war geboren.

Die Redakteure des Tageblatt-Webdesks haben in den vergangenen Wochen darüber berichtet, wie WWW und Internet in Luxemburg Einzug gehalten haben – und wie das Netz von heute funktioniert.

Alle Artikel unserer WWW-Serie finden sie hier.

Aber die Digitalisierung soll uns doch gerade produktiver machen.

Ja, durch Zeitersparnis – und genau das Gegenteil tritt ein! Der Energieverbrauch hat sich auch erhöht, obwohl wir immer effizienter mit Energie umgehen. Zugegeben: Die digitalen Kanäle ermöglichen viele Kommunikationsakte, die vormals zu umständlich oder technisch unmöglich waren. Eine SMS ist zwar zeiteffizienter als ein Telefonat, ein Fax oder ein Brief – aber gerade deshalb wird sie umso häufiger genutzt. In der Summe wächst die Zahl der Kommunikationsakte. Netto wird also mehr Zeit für Kommunikation verbraucht als im analogen Zeitalter.

Und wieso schadet uns das?

Neurologische Befunde haben ergeben, dass Menschen nicht mehr als zwei Aktivitäten gleichzeitig kognitiv verarbeitend und zielgerichtet ausführen können. Es bedarf keiner empirischen Beweise, um daraus zu schlussfolgern, dass die digitalen Medien eine schleichende Eskalation der Zeitknappheit heraufbeschwören. Hinzu kommt: Die digital abhängigen Individuen verdrängen den Verlust an Lebenssinn und Kompetenz durch die Flucht in weitere digitale Verausgabungen. Das Potenzial psychischer Krisen steigt damit.

Was macht die Veränderungen der Digitalisierung so besonders?

Alle vorherigen technologischen Veränderungen konnten nicht derart umfassend in die sozialen Kontexte einwirken. Jede Zeiteinheit und jeder Ort des menschlichen Daseins ist von der Digitalisierung betroffen. Eine Trennung zwischen der Technik und der privaten, nicht-ökonomischen Sphäre ist nicht mehr vorhanden.

Aber unsere Realität hat sich schon immer verändert. Ist der Wandel zum Homo Digitalis nicht nur eine weitere erfolgreiche Anpassung?

Die Wahrnehmung der physischen und sozialen Realität, vermittelt durch menschliche Sinnesorgane, wird langsam abgelöst. Woran orientieren wir uns: dem Screen oder dem Augenkontakt mit realen Objekten? Diesem kolossalen Wandel ist der Mensch nicht gewachsen, weil sich seine Fähigkeiten hinsichtlich ihrer Aufnahme- und Verarbeitungskapazität seit der Steinzeit kaum verändert haben. Wir benötigen Regeneration und Freiräume in der Gestaltung unserer Zeitskalen.

Gab es vor der neolithischen Revolution denn Regeneration und Freiräume? Oder im Mittelalter? War der Mensch nicht schon immer ein großer Prozess-Optimierer?

Früher waren die Erwartungen und Handlungen der Menschen einer langsameren Technologie und Ökonomie angepasst. Zwangspausen, Langeweile, Wartezeiten, begrenzte Öffnungszeiten, Feiertage und andere zeitökonomische Regulative sowie Zeitpuffer haben der Geschwindigkeit eine Grenze gesetzt. Dass sie nun durchbrochen werden, passiert in der Tat nicht zufällig, sondern als Folge einer Fortschrittsideologie. Dass der Mensch immer danach strebte, seine Handlungsspielräume durch technologische Entgrenzung auszudehnen, macht die resultierende Situation nicht besser, sondern offenbart einen Teil seines Charakters.

Smarte Stromnetze, Homeoffice oder Carsharing könnten natürliche Ressourcen einsparen. Hat die Digitalisierung denn gar keine positiven Effekte?

Nein. Das sind rein symbolische Kommunikationsakte, die sich im virtuellen Raum ausbreiten. Es sind additive Ersatzhandlungen, die keine ökologische Entlastungswirkung haben. Wenn die Digitalisierung zur nachhaltigen Entwicklung beitragen könnte, hätte das während der vergangenen zwei Jahrzehnte irgendwo sichtbar werden müssen. Davon abgesehen: Die direkten und indirekten Energie-, Materie- und Flächenverbräuche der digitalen Medien – speziell für die Hardware – sind schlicht verheerend. Die digitale Lebenswelt ist ökologisch nicht durchhaltbar.

Was sagen Sie Ihren Studenten, wenn die Sie auf den Unabomber Ted Kaczynski ansprechen? Der sagte, dass Technologie die Natur zerstört und die Freiheit immer weiter einschränkt – und tötete mit seinen Bomben mehrere Menschen.

Es kann nicht sein, dass radikale Technikkritik per se mit Gewalt und Terror in Verbindung gebracht wird, nur weil es einen Kaczynski gibt. Seine Technikkritik ist zudem teilweise sehr unausgegoren. Es gibt andere, viel ältere und wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzungen mit den Wirkungen der Technik- und Innovationsorientierung des industriellen Zeitalters. Ich vertrete eine Position, die Techniknutzung sehr wohl einschließt – und zweitens halte ich eine vollständige Zerstörung der Industrie für absurd. Mir geht es um einen Rückbau zur Erreichung eines ökologisch verträglichen Niveaus.

Warum verbraucht denn gerade die Digitalisierung so viele Ressourcen?

Die material- und energieintensiven Wertschöpfungsprozesse werden durch den Einsatz digitaler Instrumente beschleunigt, weil die Steuerung und Kommunikation entlang von Produktionsketten ein neuralgischer Hebel ist. Ehemals nicht erfassbare Bezugsquellen und Absatzmärkte können kraft digitaler Medien einbezogen werden. Der Kauf von Gütern ist zu jeder Zeit und von jedem beliebigen Ort aus durch E-Commerce möglich. Dementsprechend nehmen die Transporte zu. Der Ressourcendurchsatz pro Zeiteinheit wird also insgesamt notwendigerweise größer.

Wird es irgendwann zum großen Kollaps kommen? Wann? Und was passiert dann?

Schwer zu sagen. Aber viele Menschen werden durch Konzentrationsschwächen, gesunkene Belastbarkeit und mangelnde eigene Produktivität in Bildung und Beruf an Grenzen stoßen.

Ist es überhaupt möglich, die Entwicklung ins immer Digitalere abzuwenden oder rückgängig zu machen?

Die Kunst der Verweigerung und radikalen Technik- und Fortschrittskritik ist der letzte Ausweg.