Der blutige Aufstand der Italiener: Im Januar 1912 starben mehrere Personen bei Auseinandersetzungen

Der blutige Aufstand der Italiener: Im Januar 1912 starben mehrere Personen bei Auseinandersetzungen

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1912 lehnten sich in den Differdinger Hütten die italienischen Arbeiter auf. Sie forderten bessere Arbeitsbedingungen. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen.

Von Roby Fleischhauer

Zu dieser Zeit gehörte die Differdinger Hütte zum Stinnes-Konzern und trug den Namen „Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft“. Direktion, Beamte und Ingenieure waren zum größten Teil Deutsche. 1912 arbeiteten im Differdinger Werk 532 Luxemburger, 155 Belgier, 730 Deutsche, 145 Franzosen, 114 Personen aus anderen Ländern – und 1.240 Italiener, also fast die Hälfte der Belegschaft.

Der Lohn der Italiener lag allerdings unter dem der meisten anderen. Sie verrichteten aber die schmutzigsten und anstrengendsten Arbeiten. Niemand mochte sie, weil das Patronat ihre Niedriglöhne als Druckmittel benutzte. Sie waren fortwährend Lohnabzügen wegen Fehlverhaltens ausgesetzt. Viele sahen sie als Fremde, Ruhestörer und Verbrecher an. Als man ihnen dann jedoch noch den Beitrag für die neue Alters- und Invalidenversicherung vom Lohn abzog, war das Maß voll: Die Italiener traten in den Ausstand. Genau wie neuerdings bei den „gilets jaunes“ in Frankreich gab es aber keine Gewerkschaft und keine Anführer der Bewegung. Es war eher ein wilder, kollektiver Aufstand als eine organisierte Streikbewegung. Unter den Streikenden gab es allerdings auch einige politisch motivierte Aufwiegler.

Forderungen

Die italienischen Arbeiter stellten ein Ultimatum: „Bewilligung unserer Forderungen bis Freitag, den 26. Januar oder Streik“. Mit ihren Forderungen begehrten sie gegen ihre Arbeitsbedingungen auf. Die Direktion sollte innerhalb von nur ein paar Tagen darauf reagieren. Doch nichts geschah: Am Freitag war noch immer nichts am Anschlagbrett veröffentlicht. Die betroffenen Arbeiter machten daraufhin ihrem Unmut Luft und randalierten. Die Nachtschicht und die bereits anwesende Frühschicht traten in den Ausstand.

Die Rottenarbeiter des Hüttenbahnbetriebes und Arbeiter des Hochofenbetriebes schlossen sich dem Streik an. Direktor Metzler vom Hochofenbetrieb benachrichtigte den deutschen Hüttendirektor Fritz Sellge. Um zu verhindern, dass der Hochofenbetrieb ausfiel, wurden Arbeiter aus den verschiedensten Abteilungen dorthin entsandt. Die Streikenden reagierten, indem sie eine immer bedrohlicher werdende Haltung annahmen und ihre Ersatzleute angriffen und misshandelten. Diese wehrten sich aber, sodass es zu blutigen Auseinandersetzungen kam.

Anschließend zogen die Protestler, angeführt von Fahnenträgern, mit Spruchtafeln durch die Ortschaft bis nach Niederkorn. Um 11.00 Uhr erschienen so 350 bis 400 Mann vor dem Schmelz-Portal. Polizei und Gendarmerie waren jedoch alarmiert worden und hatten sich mit elf Mann vor dem Portal postiert, um den Streikenden den Zugang zum Gelände zu verwehren. Sie standen unter dem Kommando des Bürgermeisters, Emile Mark, der sich ebenfalls dort eingefunden hatte. Die Streikenden drückten die vor ihnen stehenden Kameraden unter Johlen und Gestikulieren gegen die Gendarmen. Da diese Widerstand leisteten, kam es zu einem Handgemenge, wobei es Faustschläge auf beiden Seiten gab. Schließlich gelang es den Gendarmen, das Portal abzuschließen.

Steinwürfe gegen Gewehrsalven

Den Italienern ging es vor allem darum, in das Werk einzudringen, um es zu verwüsten und diejenigen zu bestrafen, die ihre Arbeit verrichteten. Rasend vor Wut, rüttelten sie am geschlossenen Tor. Die Ordnungsmacht versuchte, das Tor freizumachen und die Streikenden zurückzudrängen. Um 12.10 Uhr ertönte die Alarmsirene, der sogenannte „Bier“. Die Hüttenfeuerwehr eilte zum Eingang. Sie sollte mit einem Wasserstrahl die Streikenden vom Tor vertreiben. Diese schrien: „Wenn ihr mit eurem ‚aqua‘ kommt, werden wir alles kurz und klein schlagen!“ Der erste Wasserstrahl hatte einen massiven Steinregen vonseiten der Streikenden zur Folge. Der Lanzenführer warf den Schlauch von sich und brachte sich in Sicherheit, ebenso wie der Bürgermeister, die Gendarmen und die Polizei.

Ein Italiener schwang sich mit einem Messer im Mund und einer Pistole in der Hand über das Tor und öffnete es von innen. Die Menge drängte hinein und die Ordnungsmacht musste sich bis zu den Hochöfen zurückziehen. Sie wurde massiv von den Streikenden bedrängt. In dieser gefährlichen Situation schrie der Bürgermeister, laut Bericht der Gendarmerie: „Alles kann nichts nutzen, schießt, denn es ist nicht mehr anders möglich.“ Eine Salve krachte und ein Italiener fiel tot um. Er wurde von den Kameraden weggeschleppt. Jetzt begann ein grauenvolles drei- bis fünfminütiges Gemetzel. Steinwürfe wurden mit Gewehrsalven beantwortet. Weitere Arbeiter wurden getroffen und von ihren Kameraden weggebracht.

Die Straße war inzwischen gefüllt mit Schaulustigen. Es war Mittag und die Frauen und Kinder der Arbeiter brachten das Mittagessen wie jeden Tag. Die Italiener hinderten sie jedoch daran, ergriffen die Essenskörbe und warfen den Inhalt auf die Straße. Doch die Frauen, nicht faul, schlugen den Italienern die Essensgefäße um die Ohren. Es gab dabei etliche Beulen und Blutergüsse.

Tote und Verletzte

Der 13-jährige Schmit wurde in dem Gerangel plötzlich hinterrücks von einer Kugel getroffen und starb noch am Tatort. Nun setzte ein regelrechtes Steinbombardement auf Portal, Laboratorium und Arbeitergebäude ein. Das dauerte ungefähr zehn Minuten. Sämtliche Fensterscheiben gingen zu Bruch und die getroffene Uhr in einem Büro blieb bei 12.20 Uhr stehen. Die Zahl der Verletzten wuchs. Neben etlichen Gendarmen war auch der erste Bürger der Stadt von einem Stein getroffen worden. Es gab aber auch Tote: Jakob Rapedius, 27 Jahre alt, aus Schiffweiler und Walter Schmidt, 13 Jahre, aus Dortmund, verloren ihr Leben.

Besonders tragisch war der Tod des 13-jährigen Jungen. Er war vor dem Tor erschienen, um seinem Vater das Essen zu bringen. Aufständische und Gendarmerie bezichtigten sich gegenseitig der Tat. Es stellte sich heraus, dass das Plakat hinter dem Jungen ein Einschussloch aufwies, was darauf hindeutete, dass die tödliche Kugel von hinten, also aus der Richtung der Italiener, gekommen war. Verwundet wurden: Rafael Corinaldesi, 23 Jahre , Luigi Corinaldesi, 24, Ascavino Massio-Vecchio, 23, Carmine di Scipio, 22, Venanzio Resteino, 28, und Luigi Cattani, 22. Leichtere Verletzungen trugen unter anderem Wachtmeister Hostert, die Gendarmen Kneip und Stirn sowie Polizeiagent Cathrein davon.

Den Gendarmen Boursy und Schmit wurde indes die Uniform vom Leib gerissen. Gendarm Kneip war von einem Italiener am Hals ergriffen und mit einem Messer bedroht worden. Durch das Eingreifen der Kollegen konnte aber Schlimmeres vermieden werden. Nach der Auseinandersetzung zogen die Streikenden in das Lokal Salio.

Bedauerliche Exzesse

Nachmittags, auf der Kundgebung auf dem Marktplatz, ergriff dann ein Italiener das Wort, um das ganze Elend seiner Landsleute zu schildern. Nach ihm sprach der Differdinger Schuster Georges Droessaert, der den Feuerbefehl des Bürgermeisters als Verbrechen bezeichnete. Er redete die Versammelten mit „citoyens, camarades“ an. Nach ihm folgte der Bürochef der Alters- und Invalidenversicherung, Urbany, der den Versuch unternahm, das neue System der Renten zu erläutern. Seine Rede wurde durch Buhrufe und Beschimpfungen wie „vendu“ begleitet. Schließlich ergriff Gemeindechef Mark das Wort. Er bedauerte das Blutvergießen. Später äußerte er in einem Brief die Vermutung, dass die blutigen Exzesse hätten vermieden werden können, wenn an der Spitze der Streikenden richtige Anführer gestanden hätten. Sein „Schießbefehl“ wurde ihm später noch des Öfteren angekreidet. Seiner politischen Laufbahn hat es allerdings nicht geschadet.

Später stellte sich dann noch heraus, dass auch Joseph de Bortoli erschossen worden war. Droessaert hielt die Leichenrede beim Begräbnis des Opfers. Dabei hob er hervor, dass der Verstorbene durch die Kugeln des Kapitalismus umgekommen sei. Es stellte sich jedoch heraus, dass De Bortoli Luxemburger war, im Thillenberg gearbeitet hatte und nur aus Neugierde beim Portal erschienen war. Die Gemeindeverwaltung stiftete für jeden der Getöteten einen Kranz.

Die Verhandlungen mit der Hüttendirektion, an denen auch der Kommandant der Freiwilligenkompanie, Van Dyck, teilnahm, brachten schließlich folgendes Resultat: Den Arbeitern des Möllereibetriebes wurde bei regelmäßiger Arbeit eine monatliche Prämie von ungefähr 10 Franken gewährt. Darüber hinaus wurde der Tagelohn in den übrigen Betrieben um 25 Pfennig erhöht. Daraufhin nahmen die Streikenden am 29. Januar die Arbeit wieder auf. Der Aufstand hatte aber auch ein gerichtliches Nachspiel: Die Italiener Gaetano Petinelli, Dominik Stroppo, Quirino Pampanardo, Rocca Piancoli und Antonio Tiberi wurden wegen Körperverletzung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, Giovanni Agostino erhielt vier Monate und Piantonio musste eine Geldstrafe von 100 Franken zahlen.