Debatte in der Chamber: Inventur altbekannter Probleme

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Weil sie wenig Konkretes enthielt, bot Xavier Bettels Regierungserklärung der Opposition ausreichend Angriffsfläche. Eine Gelegenheit, die diese sich nicht entgehen ließ. Doch dabei blieb es oftmals bei Wiederholungen altbekannter Ansichten.

Was der Premierminister am Vortag bewusst unterlassen hatte, holte die Opposition nach. CSV-Fraktionschefin Martine Hansen etwa beleuchtete unerwähnte Politikbereiche wie Gesundheit, Bildung oder  Wohnungsbau. Diese beträfen den Alltag der Menschen. Doch Hansens Vorwurf, Bettels Rede sei selektiv und bar neuer Vorschläge gewesen, sollte später der liberale Fraktionschef Eugène Berger damit entgegnen, es stünde ja bereits alles detailliert im Koalitionsprogramm, das der Premierminister ja nicht wiederholen müsse. LSAP-Fraktionspräsident Alex Bodry sah sich hingegen in seiner Meinung bestätigt, dass man in Zukunft statt einer allgemeinen Diskussion mehrere themenbezogene, konkrete Debatten führen sollte, bei denen der jeweilige Ressortminister anwesend wäre.

Von der Umsetzung dieses Vorschlags war man jedoch gestern weit entfernt. Und so sprachen neben Hansen auch andere Redner etliche „Nicht-Bettel-Themen“ an und wiederholten dabei meist das, was in den vergangenen Monaten ohnehin bei Interpellationen, Orientierungsdebatten, Gesetzesbesprechungen oder ganz banalen Pressekonferenzen bereits gesagt wurde.

Die „soziale Bombe“

Zu den drängendsten Fragen, die Bettel nicht ausführlich erwähnte, zählte der Wohnungsmarkt. Es bestehe eine regelrechte Wohnungsmarktkrise, unterstrich Hansen. LSAP-Präsident Franz Fayot sprach sogar von einer „sozialen Bombe“. Die Frage sei, wie mehr, kostengünstiger und nachhaltiger gebaut werden könne, so Hansen. Auch für die Grünen bleibe der Wohnungsmarkt eine Priorität, betonte Josée Lorsché, Fraktionschefin von „déi gréng“. Jahrzehntelang sei die Idee des Eigenheims im Grünen gefördert worden. Diese Politik führte in die Sackgasse. Heute verlaufe der sichere Weg zur Wohnung meist nur über eine Erbschaft. Andere riskierten Armutsfalle und Überschuldung, so Lorsché. Gut dass das Problem nicht mehr tabuisiert werde. Die seit 78 Jahren unveränderte Grundsteuer solle endlich angepasst und als Steuerungsinstrument am Wohnungsmarkt genutzt werden.

Aus dieser Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen stach der sozialistische Fraktionssprecher Alex Bodry hervor. Der Markt könne das Problem Wohnungsnot allein nicht regeln. Doch sei das Parlament zu einer interventionistischen Politik bereit? Bereit dazu, jegliche Spekulation auf Bauland zu beseitigen, Maßnahmen zu ergreifen, damit Baugelände tatsächlich bebaut werde? Eine Idee, der sich später der Hesperinger „Député-maire“ Marc Lies (CSV) nicht verschließen wollte. In einer Motion schlug er eine Spekulationssteuer auf unbebautem Gelände vor. Mit Immobilien dürfe nicht spekuliert werden, hakte Franz Fayot (LSAP) nach. Tatsächlich habe man vor allem ein Problem mit der Konzentration beim Grundstücksbesitz. Es sei attraktiv, mit Gelände zu spekulieren. Der Frage müsste bei der angekündigten Steuerreform größte Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Über Wählerklientel hinausschauen

Bodry hatte seine zugespitzten Aussagen in allgemeine Überlegungen über die parlamentarische Arbeit eingebunden. Immer seltener seien die Parteien bereit, bei großen Fragen die eigenen Interessen hintanzustellen und gemeinsam zu agieren. Vorschläge der Gegenseite würden zurückgewiesen, bloß weil man dieser keine Genugtuung verschaffen wolle. Die Parteien müssten über ihre eigene Wählerklientel hinausschauen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Auch die Regierung müsse zur Mitarbeit der Opposition bereit sein. Er habe jedoch den Eindruck, dass der Begriff Kompromiss zu einem negativen Begriff wurde – auch in der Öffentlichkeit. Dazu beitragen würden sicherlich auch Auseinandersetzungen zwischen den Parteien im Parlament.

Die Regierung habe die Problematik Klimawandel wohl erkannt, aber der Regierungschef habe bloß eine Diagnose erstellt, keine einzige konkrete Maßnahme genannt, kritisierte Hansen. Energie- und Ressourcenverbrauch müssten reduziert werden, meinte sie. Eine „Verbotspolitik“ lehne ihre Partei jedoch ab. Man brauche eine positive Klimapolitik, die den Leuten die Wende erleichtere. Eine Ansicht, der sich später auch Gast Gibéryen anschließen sollte. Statt Verbote müsse man die Menschen überzeugen, sie fördern.

Das sei eine neue Sicht auf die Umweltpolitik, „der wir einstimmig zugestimmt hatten“, so Alex Bodry an die CSV-Abgeordneten gerichtet. Denn auch Gesetze über Grenzwerte beinhalteten Verbote. Lehne man das nun ab, weil nicht mehr schick? Dürfe nicht mehr über Verbote geredet werden? Man brauche klare Regeln. Jeder müsse Verantwortung übernehmen, auch der Einzelne, wobei jeder seinen Beitrag seinen Möglichkeiten entsprechend leisten müsse. Sensibilisierung ja, aber auch Regeln. „Das war Konsens in der Vergangenheit“, so Bodry. Für seinen Parteikollegen Fayot behalte dies nach wie vor Gültigkeit. In gewissen Situationen komme man halt ohne Regeln nicht aus.

Kritik äußerte Bodry ebenfalls gegenüber den eigenen Koalitionsfreunden. Zusätzliche Maßnahmen in Sachen Klimapolitik seien notwendig. Der Kostenpunkt müsse jedoch beziffert werden. Bisher beschränke sich alles auf Subventionen, kombiniert mit weniger Steuer für Unternehmen und Privathaushalte. Diese Rechnung könne nicht aufgehen. „Alles soll auf den Tisch: Was geplant wird, was es kostet und wie wir das bezahlen können – das ist seriöse Umweltpolitik.“ Dabei müssten auch die sozialen Folgen berechnet werden. Sozial Schwache, die ersten Opfer, dürften nicht die Hauptlast des Klimaschutzes tragen. Es reiche auch nicht zu sagen, man wolle die Leute mitnehmen, aber ohne Verbote.

„Gesellschaft treibt auseinander“

Schärfere Töne aus der linken Ecke kamen diesbezüglich erwartungsgemäß von Marc Baum („déi Lénk“). Von der Erklärung Bettels habe er eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft erwartet, was sich in einem Jahr geändert habe und wie die Regierung gedenke, damit umzugehen. Nichts davon habe er gehört. In der Klimafrage etwa seien wohl Ziele genannt, der Weg dorthin aber nicht aufgezeichnet worden. Strukturelle Reformen seien für dauerhafte Lösungen notwendig. Vor allem der Tanktourismus sei für den enorm hohen CO2-Ausstoß Luxemburgs verantwortlich. Klar sei, dass jeder einzelne seinen Beitrag leisten müsse, aber Bedingungen dazu seien noch nicht gegeben, so Baum unter Hinweis auf das noch ausbaufähige Bus- und Zugnetz. Nicht die Privathaushalte seien die großen Energiefresser. Seriöse Klimapolitik dürfe nicht dem Markt allein überlassen werden.

Die soziale Frage wollte Baum nicht losgelöst von Klimafrage erörtern. Dabei sei die soziale Frage von Bettel nicht thematisiert worden. Das Armutsrisiko in Luxemburg breche mit fast 19 Prozent alle Rekorde. Der Anteil der Working Poor übersteige 13 Prozent. Die Lohnschere habe sich weiter geöffnet. Noch nie seien die Einkommensunterschiede zwischen den oberen und unteren 10 Prozent so groß wie heute. „Die Gesellschaft treibt auseinander“, so Baums Schlussfolgerung. Man brauche eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten. Das Kapital müsse genauso hoch besteuert werden wie die Arbeit.

Die Debatte über die Erklärung zur Lage des Landes wird heute Morgen mit einer letzten Stellungnahme der Regierung abgeschlossen. Etliche in den letzten Tagen gemachte Äußerungen zu Wachstum, Wohnungsnot, Klimaschutz dürften in wenigen Wochen wiederholt werden. Im Dezember stehen die Debatten zum Haushaltsentwurf 2020 an, den Finanzminister Pierre Gramegna kommende Woche im Parlament vorstellen wird.


Verwarnung

Der ADR schmeckt die Migrationspolitik von Außenminister Jean Asselborn (LSAP) nicht. Daran hat sich die Regierung bisher recht wenig gestört. Das Regierungsmitglied jedoch als „Schutzpatron der Menschenschleuser im Mittelmeer“ zu bezeichnen, war am Mittwoch auch den abgebrühtesten Politikern zu viel. Luxemburg hatte in den vergangenen Monaten mehrmals Menschen aufgenommen, die von humanitären Organisationen aus Seenot gerettet worden waren. Die Aussage des ADR-Abgeordneten Fernand Kartheiser hatte die Regierung in helle Aufregung versetzt, sodass bisweilen Rufe zu vernehmen waren, den Plenarsaal zu verlassen. Parlamentspräsident Fernand Etgen sprach Kartheiser eine Verwarnung aus.