Das Drama 975 Meter unter der Erde: Vor 63 Jahren starben 262 Arbeiter im belgischen Bergwerk „Bois du Cazier“

Das Drama 975 Meter unter der Erde: Vor 63 Jahren starben 262 Arbeiter im belgischen Bergwerk „Bois du Cazier“

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Rue Marcinelle – dieser Straßenname in Esch und Kayl erinnert an die folgenschwerste Grubenkatastrophe Belgiens. 262 Bergarbeiter starben am 8. August 1956 im „Bois du Cazier“. Jedes Jahr wird der Opfer gedacht. Vor Ort weilte auch dieses Mal eine Delegation aus Kayl.

Umberto war sieben Jahre alt, als sein Vater starb. Enrico Del Guasta war einer der 262 Bergarbeiter, die am 8. August 1956 in der Kohlengrube „Bois du Cazier“ bei Marcinelle, heute ein Teil von Charleroi, ihr Leben ließen. Kurz nach 8 Uhr morgens zerstören teilweise aus dem Förderkorb stehende Transportwägelchen in 975 Metern Tiefe den Schachteingang. Der Aufzug war ohne Vorwarnung in Bewegung gesetzt worden. Dabei werden schlecht isolierte Strom- und Ölleitungen beschädigt. Ein Kurzschluss setzt Hydrauliköl in Brand.

Da der Förderschacht auch zur Bewetterung der Grube dient, verbreiten sich Feuer und Rauch durch die einströmende Frischluft rasch in sämtlichen Stollen. Nur 13 der 275 Männer zählenden Frühschicht überleben das Unglück, die anderen ersticken. Während zwei Wochen bleiben die vor den Werkstoren ausharrenden Familienangehörigen im Ungewissen über das Schicksal ihrer Väter und Ehemänner.

„Ein Schock“

Enrico Del Guasta gehörte zu den 136 Italienern, die am 8. August zur Frühschicht angetreten waren, zusammen mit Kollegen aus Deutschland, Belgien, Frankreich, Polen, Ungarn, Griechenland, Großbritannien, Ukraine und Russland. Wie seine Landsleute war er aufgrund eines zwischenstaatlichen Vertrags nach Marcinelle zur Arbeit gekommen. Belgische Kohle gegen italienische Arbeitskraft, so das Abkommen aus dem Jahr 1946 – monatlich fünf Tonnen Kohle pro Arbeiter. 44.000 der 63.000 in den belgischen Kohleflözen arbeitenden Ausländer stammten aus Italien. Arbeitslosigkeit hatte sie ins kalte Belgien getrieben.

Bei Enrico kam noch erschwerend seine politische Vergangenheit hinzu, hatte er doch in Pescara in den Abruzzen die Sektion der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) mitbegründet. Dass er ab 1943 eine 86 Mann starke Partisanenabteilung in Italien geleitet hatte und dafür mit einem der höchsten Verdienstorden der italienischen Republik ausgezeichnet worden war, änderte nichts daran. Um seine Familie zu ernähren, musste er dem Ruf nach Belgien folgen. Wer sich zur Arbeit in der Kohlemine verpflichtete, tat dies für fünf Jahre. Viele ahnten nicht, was auf sie zukommen würde. „Für diese Männer war die erste Fahrt in den Schacht ein Schock“, heißt es auf einer Erklärungstafel im Museum vom Bois du Cazier, gleich neben dem Förderturm des Bergwerks.

Schuften wie Sklaven

Der Vertrag sah keinerlei Anpassungsperiode vor. Einzelne Arbeiter weigerten sich, am darauffolgenden Tag erneut nach unten zu fahren, was prompt als Vertragsbruch betrachtet wurde. Die Männer wurden der Polizei gemeldet und in eine Sammelstelle nach Brüssel gebracht, um nach Italien abgeschoben zu werden.

Wer seine vertraglich vereinbarten fünf Jahre im Bergwerk schaffte, dem winkte eine Arbeitserlaubnis, die zur Aufnahme einer anderen Beschäftigung in Belgien befähigte. Untergebracht waren die ausländischen Grubenarbeiter und ihre später zuziehenden Familien in einem ehemaligen Lager, das die Nazis für russische Kriegsgefangene errichtet hatten. „Wir schufteten wie die Sklaven“, sagt ein Zeitzeuge im Dokumentarfilm zur Tragödie im Bois du Cazier. Sein Vater sei in seinem fünften Vertragsjahr gestorben, erinnert sich Umberto Del Guasta. Sein Leichnam konnte erst anderthalb Monate nach dem Unglück geborgen werden. Umberto ist eines von 417 Waisenkindern, die die Katastrophe vom 8. August 1956 hinterließ. Als Entschädigung sei jedem Waisenkind eine Geldsumme in italienischen Liren in Aussicht gestellt worden, zu beziehen bei Vollendung des 21. Lebensjahres. Als er den Betrag erhielt, habe das Geld inflationsbedingt kaum für eine Existenzgründung gereicht, sagt Umberto.

Irrsinnige Produktionssteigerung

Der 1959 begonnene Prozess zur Katastrophe von Marcinelle endete für die Hinterbliebenen enttäuschend. Nach dem Berufungsverfahren wurde lediglich ein Dienst tuender Ingenieur schuldig gesprochen, eine Art Sündenbock. An den eigentlichen Ursachen hatten sich weder das Gericht noch die etlichen Untersuchungsausschüsse gewagt.

Wesentliche Fragen wie die irrsinnige Produktionssteigerung, veraltete Betriebsweisen, unqualifizierte Arbeiter, die nichts von den Risiken des Berufs wussten, fehlende Investitionen und die Missachtung der von der CECA (Montanunion) vorgeschriebenen Normen wurden ausgeklammert, so die belgische Historikerin Julie Urbain in ihrer Analyse „Le procès de la catastrophe du Bois du Cazier (1959-1962)“. Der Fall endete vor den Kassationsrichter, die es zurück an das Berufungsgericht zurückschickten. Um weitere Schlagzeilen zu vermeiden, schlugen die Minenbesitzer eine gütliche Einigung vor: 3.000 belgische Franken für jedes Opfer. In der Zwischenzeit wurde die Arbeit im Bergwerk längst wieder aufgenommen.

Ende der Kohlenindustrie

Bis 1967 wird der Bois du Cazier weiter Kohle fördern. Die Katastrophe von Marcinelle läutet jedoch nicht nur das Ende des Kohleabkommens mit Italien, sondern auch das Sterben der wallonischen Kohlenindustrie ein. Fördertürme und technische Gebäude erinnern heute an die ehemalige Arbeitsstätte, die nach der Stilllegung der Mine fast in ein Einkaufszentrum verwandelt worden wäre. Die Anlagen wurden auf Betreiben ehemaliger Bergleute und der Region Wallonien als Erinnerungsstätte erhalten.

Seit 2002 sind sie öffentlich zugänglich. 2012 wurde das Areal in die Liste des Unesco-Welterbes eingetragen. Der Museumsraum 8. August schildert anhand von Fotos, Filmen und Zeugenaussagen die Arbeitsbedingungen in den Kohleminen, erinnert an die bewegte Geschichte der Migration. Auf Porträts sind die 262 Opfer des Unglückstags zu sehen.

Sicherheitsmaßnahmen erhöht

Zusammen mit anderen Hinterbliebenen nimmt auch Umberto Del Guasta jedes Jahr am 8. August an der Gedenkfeier im Bois du Cazier teil. Dabei sind auch Kumpels aus anderen Kohlebergbauregionen Belgiens, ehemalige Grubenarbeiter aus Frankreich und Deutschland sowie eine Delegation aus der kleinen Gemeinde Manopello in den Abruzzen, aus der 26 der verunglückten Bergarbeiter stammten. Jährlich reisen auch Vertreter der Gemeinde Kayl/Tetingen und des örtlichen Tourismussyndikats an, um Blumengebinde an der Gedenkstele mit den Namen der Verstorbenen niederzulegen.

Die Zeremonie im Bois du Cazier dient nicht nur der Erinnerung an das schwerste Grubenunglück in der Geschichte Belgiens und an die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Kohlenindustrie. In Marcinelle wurde ein Kapitel arbeitsrechtliche Geschichte Belgiens geschrieben.

Nach der Katastrophe seien die Sicherheitsmaßnahmen in Belgiens Bergwerken erhöht worden, sagte Marie-Louise Roeck, Vorsitzende der „Amicale des mineurs des charbonnages de Wallonie“, am 8. August vor den fast 300 Gästen. Viele von ihnen werden am 29. September auch bei der traditionellen „Journée internationale des mineurs“ in Kayl sein, ein weiteres Glied der internationalen Solidaritätskette.