Brutta Italia: Wie Salvini und die Lega das parlamentarische System abschaffen wollen

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Politologe Jean-Yves Camus erklärt die Entstehung der Lega, ihren Wandel und ihren Erfolg – und nimmt auch Stellung zu ADR und Asselborn.

Merde alors! Mit dem Ausraster Jean Asselborns am vorvergangenen Freitag rückten Matteo Salvini und seine Partei Lega in den Blickpunkt der Luxemburger Öffentlichkeit. Der französische Extremismus-Forscher Jean-Yves Camus erklärt die Entstehung der Lega, ihren Wandel und ihren Erfolg – und nimmt auch Stellung zu ADR und Asselborn.

Lesen Sie zum Thema auch den Kommentar “Ciao Bella”.

Tageblatt: Die Lega hat eine spektakuläre Entwicklung genommen. Ihr Erfolgsrezept scheint darin zu bestehen, immer wieder eine Utopie verkaufen zu können – womit sie genau das schafft, was klassischen Parteien nicht mehr gelingt, nämlich die Menschen träumen zu lassen.

Jean-Yves Camus: Ja, aber es ist eine andere Utopie, eine über die Herkunft, die Identität. Die Lega begann als Bewegung, die die Unabhängigkeit Norditaliens anstrebte, ein Norditalien, das sie auf den Namen „Padanien“ taufte. Das macht sie einzigartigin Europa: für eine Region zu kämpfen, die es geschichtlich gesehen nie so gegeben hat. Das war die erste Utopie, die diese Bewegung in den 1980ern ihren Wählern angeboten hat.

Mittlerweile heißt die Lega nur noch Lega und nicht mehr Lega Nord und hat Wähler in ganz Italien, vor allem aber bis Rom. Wie hat sich ihr politisches Geschäftsmodell verändert?

Die Lega bietet nun eine Gegenutopie an. Sie setzt der Utopie einer Welt ohne Grenzen, in der wir alle Weltbürger sind, ohne dass es etwas gibt, das uns eingrenzt, ihre Version entgegen. In dieser Gegenutopie gibt die Grenze, also die Eingrenzung des Raumes, die Struktur vor. In dieser Konzeption ist die Identität des Einzelnen fixiert: Sie verändert sich nicht im Laufe des Lebens und auch nicht durch den Dialog und das Zusammenleben mit anderen. Im Weltbild der Lega – und das ist in allen totalitären Bewegungen der Fall – gibt es nur noch Menschen, die sich nicht mehr unterscheiden, die in der Masse verschwinden.

Auch im Luxemburger Wahlkampf ist ein gewisser Hang zum Identitären feststellbar, wo ziehen Sie die Grenze des Tragbaren?

Es ist sehr respektabel, wie sich die Luxemburger um ihre Sprache kümmern, sie bewahren und sogar stärken wollen. Und dass die ADR die Verteidigung des Luxemburgischen in ihrem Programm stehen hat, spricht ja nicht dagegen, sich für die Sprache einzusetzen. Solange die Verbindung zur Sprache zur Vielfältigkeit in Europa beiträgt, ist das wunderbar. Gefährlich wird es, wenn es dazu führt, sich von anderen abzukapseln und abzugrenzen. Und wenn man alle ausschließen will, die reinkommen wollen, wird es katastrophal.

Matteo Salvini, zuzeiten der Lega Nord, wollte nicht einmal als Italiener bezeichnet werden …

… und jetzt ist er ein nationalistischer Italiener.

Aber wie ging das? Wie hat es Salvini hinbekommen, dass ihm die Wähler diese Verwandlung abkaufen?

Salvini hat vor allem eines verstanden. Seit 1993, unter den Regierungen Berlusconi, war die Lega immer nur die Hilfskraft einer dominierenden rechten Partei, eben Berlusconis Forza Italia. Salvini wusste, dass seine Partei die größte Kraft unter den Rechten werden müsste – auch wenn er sich, um dieses Ziel zu erreichen, zeitweise an Berlusconi zu binden hatte. Und was ist passiert? Berlusconi ist bei den letzten Wahlen hinter ihm gelandet.

Salvini hat also bloß die Gunst der Stunde genutzt?

Als die anderen Rechten schwächelten, hat Salvini seine föderalistische Unabhängigkeitsbewegung in eine Partei verwandelt, die für den italienischen Nationalismus eintritt. So wurde die Lega für alle zugänglich. Das war nicht einmal besonders kompliziert, da die ganze Rechte, bis auf Berlusconi, vom politischen Schachbrett verschwunden war. Die berühmt-berüchtigten neofaschistischen Vorgänger der Alleanza Nationale (AN), der Movimento Sociale Italiano (MSI), ist vollkommen vom Radar verschwunden. Gianfranco Fini, letzter AN-Chef und eigentlich ein ehrbarer Politiker, hat die Italiener ab dann nicht mehr interessiert, wo er seinen alternativ-subversiven Charakter verloren hat. Finis Sprache war am Ende die eines zivilisierten Rechtskonservativen – sie war glattgebügelt.

Davon ist Salvini in der Tat weit entfernt …

Eben. Fini hat ja auch nie ein europäisches Ministertreffen derart durcheinander gewirbelt, wie Salvini es vor einer Woche mit seinem Sklaven-Vergleich getan hat. Aus Finis Mund hörte man nie auch nur die Hälfte der Aussagen, die Jean Asselborn nun so vehement verurteilt hat. Salvini sprengt die Grenzen all dessen, was gesagt werden darf, vor allem was Migranten oder Minderheiten betrifft.

Hatte Asselborn in Ihren Augen Recht, zu dem Zeitpunkt dazwischenzuhauen?

Klar, es war Zeit, einmal andere Saiten aufziehen. Und so weit wie Salvini weit geht ja nicht einmal einer wie Viktor Orban.

Aber Italien hatte auch immer eine spezielle Beziehung zu Afrika, was beispielsweise Orbans Land Ungarn nie hatte.

Das stimmt, aber es ist eine komplizierte Beziehung. Am Ende des Zweiten Weltkrieges und zum Ende des italienischen Faschismus war Italien eine kleine Kolonialmacht – mit viel zu großen Ansprüchen. Italien musste sich aber zufrieden geben mit Libyen, Äthiopien, Somalia, Eritrea und einem Stückchen von Tunesien. Dabei wollte Italien eine Kolonialmacht werden in einem in eine deutsche und eine italienische Einflusszone aufgeteilten Afrika. Es gab einen ganzen Literaturzweig, der sich der Bestimmung Italiens widmete, kein Land mehr zu sein, das seine Arbeiter exportiert, sondern ein Land zu werden, das erobert und kolonialisiert. Die faschistische Literatur dieser Zeit verurteilt die Auswanderung aus Italien.

Wieso eigentlich?

Die zentrale Idee dahinter war: Italien verarmt, indem es sich leert, indem es seine Menschen überall hin in die Welt zieht. Die Faschisten wollten das Gegenteil davon – ein Italien, das stark ist und seinen Menschen neue Möglichkeiten bietet. Diese neue Lebensqualität sollte mit der Kolonialisierung von Teilen Afrikas und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Afrikas erreicht werden. Das blieb alles Wunschdenken bleiben, aber es ist weiter verankert in der italienischen Psychologie. Und es hilft auch, sich einmal eine Karte anzuschauen – vom Süden Italiens aus gesehen ist man sehr, sehr nah dran an Libyen und Tunesien. Das ist gleich gegenüber.

Der Wahlerfolg der Lega gründet auch auf der Unzufriedenheit mit den klassischen Parteien. Nun stehen da plötzlich von der Lega veruntreute 49 Millionen Euro im Raum – sehen die Italiener darüber einfach hinweg?

Das fällt unter das Kapitel Umberto Bossi, dem Gründer der Lega. Und dieses Kapitel ist zugeschlagen. Bossi ist ein Mensch der Vergangenheit.

Giorgio Almirante vom MSI formulierte bereits 1969 die Frage, die seither für alle
Nationalisten Italiens gilt: Soll man eine Alternative im System sein oder eine Alternative zum System – wo ist Salvinis Lega zu verorten?

Die italienische Parteienlandschaft ist völlig auf den Kopf gestellt. Die Konservativen? So gut wie verschwunden. Der Partidio democratico? Längst eine Mittelinkspartei und keine sozialistische mehr. Die Christdemokraten? Zersplittert. Von den Neofaschisten gibt es nur noch die Fratelli d’Italia, die bei drei, vier Prozent dümpeln. Mittlerweile ist die Lega alles, was es auf der Rechten Italiens noch gibt. Und eine bessere Position kann man nicht haben: Im System sein, von dort aus dessen Unfähigkeit bloßstellen und abwarten, bis auch der letzte Konkurrent ganz verschwunden ist.

Bereits zu Zeiten der Lega Nord hatte die Bewegung eine föderalistische und präsidentielle Ausrichtung. Bleibt das ein Ziel der Partei unter Salvini?

Ein Präsidialsystem nach dem Vorbild von Frankreichs Ve Republik, nach dem Vorbild General De Gaulles, war schon Finis Zielsetzung. Fini aber lehnte den Föderalismus ab, dachte zentralistisch. Salvini und die Lega denken aber, der beste Weg sei, das parlamentarische System ganz abzuschaffen und Italien eine föderale Form zu geben. Was wiederum der ersten politischen Zielsetzung der Lega Nord Rechnung tragen würde: Die steuerlichen und wirtschaftlichen Kompetenzen sollen den Regionen zustehen. Das bedeutet nichts anderes als: Alle, die reich sind – gut für sie. Und alle, die arm sind, sollen halt arbeiten gehen.

Das trifft dann aber die Wahlklientel der 5-Sterne-Bewegung und spricht nicht für die Festigkeit der momentanen Koalition.
Ganz genau. Und eine weitere Frage, die sich für die nahe Zukunft stellt, ist die, ob die Lega die Auswanderung der Italiener genauso kritisieren wird, wie es die Faschisten taten. Auf eine solche Entwicklung sollte man acht geben.

Jean-Yves Camus, geboren 1958, ist einer der prominentesten französischen Politikwissenschaftler und Rechtsextremismusforscher. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Nicolas Lebourg im Seuil-Verlag das Buch „Les droites extrêmes en Europe“).