Auch unvollendet schön

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Am Donnerstagabend stand eigentlich ein ausverkauftes Konzert der deutschen Band Milky Chance im Rockhal Club auf dem Programm. Der Auftritt der Kasseler musste jedoch nach zwei Songs abgebrochen werden. Was dann folgte, waren aber keine negativen Konsequenzen. Ganz im Gegenteil.

Am Donnerstagabend stand eigentlich ein ausverkauftes Konzert der deutschen Band Milky Chance im Rockhal Club auf dem Programm. Der Auftritt der Kasseler musste jedoch nach zwei Songs abgebrochen werden. Was dann folgte, waren keine negativen Konsequenzen. Ganz im Gegenteil.

Bereits 2014 hatten die jungen Herren an einem lauen Sommerabend frische Luft durch ihre mit Grazie getragenen verstruwwelten Haare wehen lassen, das Publikum auf dem Food For Your Senses Festival verzaubert und ihm einen intimen Moment beschwert. Gerade darin besteht die Stärke der vier Musiker, die gemeinsam ein Klangbild zeichnen, auf dem sich Electronica-Tupfer regelmäßig auf verschiedenen Ebenen einer Folk-Landschaft verteilen. Über all dem schwebt ein Hauch von einer ungehobelten, aber ebenso zarten Stimme, die wie unendlich weiches Schleifpapier daherkommt. In ihrer Imperfektion wirkt die Stimme von Clemens Rehbein doch auf ihre Art perfekt und vor allem klar.

Perfekt unperfekt

Das musikalische Gesamtkonzept von Milky Chance hat etwas „vom Tag danach“, sei es durch den Sänger, der ein wenig so wirkt, als sei er noch heiser von einer abenteuerlichen Nacht oder auch durch die Kompositionen, die etwas Gemächliches haben und einen unausgesprochenen Schwur leisten, niemanden durch etwaige Tempuswechsel aus dem gemütlichen Modus rauszubringen. Es geht stets nach vorn, aber nie in Eile. Denn gut Ding will schließlich Weile haben.

Milky Chance ist nicht die erste Band, die ihr Debüt auf genau diesem DIY-Festival feierte, um dann später in anderen großen luxemburgischen Institutionen vor vollem Haus zu spielen. Am Donnerstagabend konnte der Zauber von 2014 nicht wiederholt werden, aber dafür entstand etwas Neues, Magisches.

War man nach dem ersten Song „Ego“ vom neuen Album „Blossom“, der ohne Begrüßung und Ansage begann, noch kurz dazu geneigt, sich zu fragen, ob nun ein distanziertes Egospielchen beginne, so durfte spätestens nach dem zweiten Track „Blossom“ klar sein, dass dem nicht so ist. Denn der letzte Gitarrenriff ging daneben und Clemens Rehbein verließ die Bühne, während ein Kollege erklärte: „Sometimes the body says no.“ Er habe schlimme Halsschmerzen, man gebe jedoch sein Bestes, um weiterzumachen, hieß es. Wenige Sekunden später tauchte der Sänger wieder auf und bedauerte, das Konzert abbrechen zu müssen.

(Kein) Traumpublikum

Dies erstaunte nicht nur das Publikum, sondern sichtlich auch die anderen Bandmitglieder sowie die Rockhalmitarbeiter. Scheinbar hatte Rehbein es wirklich versucht und war trotzdem an seine Grenzen gestoßen. Jeder im Saal vernahm in dem Moment als er sprach, ohne in die Schutzhülle der Musik gehüllt zu sein, dass es wirklich nicht anders ging.

Verständlicherweise verfiel das Publikum nicht gerade in einen Freudentaumel, ebenso wenig wurde aber die kollektive Flucht ergriffen. Viel eher hatte man das Gefühl, dass sich die 1100-köpfige Belegschaft ganz in Ruhe um den Merch-Stand versammelte, da die Musiker versprochen hatten, später dort aufzukreuzen.

„Ich bin ja nur von Saarbrücken hergefahren“ sagte eine Frau, die betonte, dass sie den Grund für den Abbruch absolut nachvollziehen könne. Ihre Freundin aus Trier fügte hinzu: „Natürlich sind wir traurig aber Hand auf‘s Herz: Wie oft erleben wir selbst Momente in unserem Arbeitsleben, in denen wir spüren, dass es eigentlich nicht mehr geht und doch machen wir weiter? Ich habe Respekt davor, dass hier ehrlich ausgesprochen wurde, dass eine Grenze erreicht ist.“ Eine junge luxemburgische Studentin war extra aus Halle angereist, bereute es jedoch ebenfalls nicht, da sie ohne dieses Konzert vielleicht die Stuttgarter Vorband Riva, die zuvor mit Jungle Pop begeistert hatte, nicht kennen gelernt hätte. Am Desk der Rockhal gab es viele Nachfragen, hier ging es weniger um die Rückerstattung der Ticketkosten, als vielmehr um einen möglichen Ersatztermin. Eine Frau Ende 50 verkündete mit reichlich Enthusiasmus: „Wenn der Termin nicht passt, dann mach ich ihn passend!“

Grenzen aller Art

Das entgegengebrachte Verständnis half der Band ungemein, denn auch für sie war es das erste mal gewesen, dass so etwas passierte, wie Philipp Dausch, Bandmitglied der ersten Stunde, berichtete:“Dieses Jahr spielen wir 170 Konzerte. Wir dürfen nicht vergessen, dass man auch mal krank werden kann und es dann seine Zeit braucht, um wieder gesund zu werden. Eine derart positive Rückmeldung zu bekommen, die einem klar macht, dass man sich das eingestehen darf und es nicht unterdrücken muss, tut gut.“

Gerade in den letzten beiden Jahren konnte man verstärkt Statements von international anerkannten Künstlern vernehmen, welche sich öffentlich zu ihrem Gesundheitszustand und Ermüdungserscheinungen äußerten. Ein PR-Trend oder doch eher eine logische Konsequenz einer Industrie, in der wenig Zeit für Pausen bleibt? Dausch vertritt hier folgenden Standpunkt:“ Ich begrüße es, wenn gerade in unserem Bereich Menschlichkeit wieder an Wert gewinnt, denn diese verschwindet leider häufig unter oberflächlichem Glanz.“

Musik als eigene Sprache

Das Publikum im Rockhal Club bestach durch seine Heterogenität, was aber allen Besuchern gemein schien, war ihre unbedarfte und ruhige Art mit der Situation und den Künstlern umzugehen. Hatten hier schon die wenigengespielten Songs ihre Wirkung gezeigt und wie fühlte sich dies für die Band an? Hatte diese vielleicht schon bevor sie ihr erstes Album veröffentliche, eine gewisse Wunschvorstellung oder ein bestimmtes Profil des idealen Zuhörers im Kopf? Hierzu Philipp Dausch: „Für uns ist das immer wieder total überraschend, denn unser Publikum ist zwar im Durchschnitt zwischen 20 und 30 Jahre alt, wir selbst sind ja auch Mitte 20, aber ebenso haben auch schon 80 jährige Patienten meines Vaters, der Arzt ist, ihn auf unsere Musik angesprochen und ihr Gefallen ausgedrückt. Das freut uns sehr, da wir gerne Grenzen überschreiten oder aufbrechen. Zudem zeigt das, dass Musik eine ganz eigene Sprache ist.“

Die Lieder von Milky Chance sind eingängig, tendieren aber zu einer gewissen Repetitivität, die man als tranceartig bezeichnen könnte. Was auf den ersten Ohrenblick nach easy listening klingt, kann nach mehrfachem Hören im Zusammenspiel mit den intelligenten Textzeilen, anders bewertet werden. Während „Pop“ für die einen ein Schimpfwort ist, scheinen die Bandmitglieder mit dieser Bezeichnung leben zu können. Es gäbe keine Deutungshoheit in Bezug auf ihre Stücke und es sei nie das Ziel gewesen, sich an ein einziges, elitäres Publikum zu wenden, meinte Dausch: „Es gibt so viele verschiedene Publikumsarten, ich denke hierbei auch an die Hörtypologie von Adorno, und es hat jede davon ihre Berechtigung. Natürlich ist es für uns schön, wenn jemand heraushört, was man da an Arbeit reingesteckt hat, aber unsere Musik soll an alle gehen, deswegen ist jemand, der die Lieder anders hört, ebenfalls willkommen.“

Erfolgsrezepte

Milky Chance ging 2013 nach einem Youtube-Hit total durch die Decke und tourt seitdem durch viele Länder, gewinnt Preise und spielt oft in ausverkauften Locations, auch außerhalb des heimischen Kontinents. Ihre Beteuerungen, sich nicht auf zu größenwahnsinnige Deals einlassen zu wollen, nimmt man ihnen trotzdem ab: „Wenn man soviel Aufmerksamkeit bekommt wie wir, muss man erstmal für sich herausfinden, was man selbst als Erfolg definieren möchte. Das zu eruieren, ist eine Lebensaufgabe, die wir noch nicht erfüllt haben. Für uns steht lediglich fest, dass Musik etwas sehr Natürliches ist, das wir von klein auf machen. Man sollte Erfolg nicht mit einem gewissen Status verwechseln. Nach Letzterem haben wir nie gestrebt und das werden wir auch in Zukunft nicht tun.“

Zu guter Letzt kam von Seiten Philipp Dauchs noch eine Bemerkung, die wohl den ein anderen Luxemburger erstaunen dürfte. Vor allem jene, die schon häufiger mit lautstarken Tresenstützen aneinander gerieten, weil diese so manches Konzert zu übertönen verstehen. Er schien es ehrlich zu meinen, als er sagte:“Wir haben festgestellt, dass in Luxemburg wirklich zugehört wird, das bestätigte uns auch die Vorband. Es kann also kein Versehen gewesen sein. Ihr scheint ein echt aufmerksames Volk zu sein.“