Am Wochenende verwandelt sich Sam aus Luxemburg in Thalia Garcia

Am Wochenende verwandelt sich Sam aus Luxemburg in Thalia Garcia

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Sam Gouber hat ein außergewöhnliches Hobby: An manchen Wochenenden verwandelt er sich in eine Frau. Dann tritt er vor Publikum auf und zaubert den Menschen ein Lächeln ins Gesicht. Die Geschichte eines schüchternen Jungen, der in der Kunst der Travestie seine Erfüllung findet.

Mehrere Kisten und Koffer schleppen Sam Gouber und sein Lebensgefährte Jérôme vom Auto ins Restaurant „Béierhaascht“ in den ersten Stock. Es ist Samstagabend in Niederkerschen – in ein paar Stunden tritt Sam zusammen mit seiner Truppe auf. Es ist an der Zeit, sich fertig zu machen.

Dafür braucht der gelernte Frisör immerhin zwei Stunden. Als er seinen Schminkkoffer öffnet und die Glühbirnen links und rechts darin anbringt, wirkt der junge Mann zurückhaltend. Er setzt die Brille ab, ersetzt sie durch Kontaktlinsen. Dann beginnt er mit einem speziellen Produkt, seine Augenbrauen zu überschminken – der erste Schritt seiner Verwandlung. Dass Sam in knapp zwei Stunden eine bildhübsche Frau sein wird, ist noch nicht zu erahnen. Sich verkleiden, schminken, in die Rolle einer Frau schlüpfen ist seine Leidenschaft.

Im Alter von 33 Jahren ist Sam fast schon ein alter Hase in der luxemburgischen Drag-Szene. Seitdem er 16 ist, tritt er als Travestie-Künstler auf – also buchstäblich schon sein halbes Leben. „Ich habe mich bereits als Kind gerne verkleidet. Damals habe ich heimlich die Röcke und die hochhackigen Schuhe meiner Mutter anprobiert“, erzählt er und trägt dabei seine Foundation auf.

„Ich habe mich nie im falschen Körper gefühlt. Ich hatte einfach Lust an der Verwandlung.“ Später lebt er sich auf der Theaterbühne aus: „Das war allerdings etwas männlicher“, lacht er. Als Sam als Jugendlicher mit Freunden eine Bar besucht, sieht er durch Zufall zum ersten Mal eine Travestieshow. „Ich war fasziniert und zugleich verängstigt. Immerhin sind Travestiekünstler Menschen, die sehr viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“

An diesem Abend lernt er die Dragqueen kennen, die zuvor auf der Bühne stand. Diese merkt sofort, dass Sam Gefallen an der Kunst findet, und überredet ihn, zusammen mit ihr aufzutreten. „Ich wollte das zuerst nicht. Ich hatte Angst davor, was die Leute, allen voran meine Mutter, über mich denken“, erinnert sich Sam zurück.

Inzwischen ist er beim wichtigsten Teil des Make-ups angekommen: dem sogenannten „Contouring“. Durch gezieltes Platzieren von hellem und dunklem Make-up werden seine Züge weicher und weiblicher. „Es ist schon nicht einfach, sich mit 16 zu outen. Wenn man dann auch noch zugibt, dass man gerne Röcke und Kleider anzieht, verstehen die Menschen überhaupt nichts mehr.“

Trotz seiner Zweifel traut Sam sich auf die Bühne. Er hat Blut geleckt. Ein erster Auftrag lässt nicht lange auf sich warten. Sam tritt damals noch als Kelly beim „Gaymat“ auf dem Knuedler auf. Aufgrund des großen Publikums und der Pressepräsenz entscheidet er sich dazu, seiner Mutter von seiner neuen Leidenschaft zu erzählen.

„Mama, ich trage gerne Frauenkleider“

Mutter Annette ist im ersten Moment geschockt. „Sie dachte, das habe etwas mit Prostitution zu tun, und hatte ein ganz falsches Bild von der Sache. Als ich ihr erklärt habe, dass es um Entertainment geht und darum, Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, hat sie sich überzeugen lassen.“ Schnell wandelt sich die Skepsis in Stolz und Annette opfert einen Großteil ihrer Freizeit, um ihren Sohn zu unterstützen. Gemeinsam kaufen sie Sams erste Kleider und an den Wochenenden fährt sie den 16-Jährigen quer durchs Großherzogtum, nach Belgien und Frankreich zu seinen Auftritten.

Der Drag-Name Kelly gefällt Sam bald nicht mehr. „Ich war oft in Spanien und auf den Kanarischen Inseln im Urlaub. Dort habe ich die Musik einer mexikanischen Sängerin kennengelernt, die mir sehr gut gefallen hat. Sie hieß Thalia.“ Seitdem tritt Sam als Thalia auf. Als es dann irgendwann zum Trend wurde, dass alle Dragqueens Nachnamen haben, fügte er Garcia hinzu. Mit der ganz einfachen Begründung: „weil es Spanisch klingt“.

Es ist vor allem der Charakter, der Thalia von Sam unterscheidet. „Als Sam bin ich ein sehr zurückhaltender Mensch, der nicht gerne im Mittelpunkt steht und eigentlich lieber unsichtbar wäre.“ Als Thalia ist er das komplette Gegenteil. „Dann liebe ich alles, was glitzert, glänzt und einen Wow-Effekt hat. Das Make-up und die Verkleidung sind wie eine Fassade. Ich bin ich, gleichzeitig aber auch nicht. Dadurch traue ich mich viel mehr.“ Thalia ist nicht auf den Mund gefallen. Das ist aber auch Teil ihres Images, das sie sich gibt, um auf dem Markt bekannt zu bleiben.

Im oberen Stockwerk der „Béierhaascht“ beginnt Sam, seine Augen zu schminken – in dezenten Tönen, erklärt er, damit es zu jedem seiner Outfits und all seinen Perücken passt. Ob er sich das selbst beigebracht hat? Fast. Schon immer schminkt und stylt er andere gern. Nach seinem Abschluss am „Lycée des arts et métiers“ absolviert er eine Kosmetik- und Make-up-Ausbildung. „Dort habe ich natürlich nicht ganz das gelernt, was ich jetzt gerade mache, aber die Basics.“ Alles Drag-Spezifische hat ihm seine Drag-Mutter Thierry alias Madame sans gêne beigebracht. „Damals gab es diese ganzen Youtube-Tutorials noch nicht.“

Beim Aufmalen der Augenbrauen muss Sam sich am meisten konzentrieren. Schließlich zieht er sie über seinen natürlichen Augenbrauen. Dabei erzählt er von Thierry und der Drag-Szene in Luxemburg. Mit Madame sans gêne tritt er immer noch zusammen auf – auch an diesem Samstag. „Und die ist wirklich sans gêne!“, schaut er sie mit vorwurfsvollem Blick an. „Wir sind schon durch dick und dünn gegangen.“ Denn in der Drag-Szene ist es nicht immer einfach. Es gibt mehr Zickereien als bei Frauen. „In der Szene herrscht viel Eifersucht. Jede will die Schönste sein. Dadurch kommt es zu unschönen, ekligen Momenten.“

Mit der Zeit hat Sam gelernt, aus negativer Kritik etwas Positives zu machen. „Hunde, die bellen, beißen nicht.“ Sam klebt sich gerade falsche Wimpern an. Riesige, lange Wimpern. „Das sind drei aneinandergeklebte Paare.“ Diese Zickereien waren der Auslöser dafür, dass Sam seine eigene Truppe, die „Shemales“, gegründet hat. Am Anfang waren das nur er und sein bester Freund. „Wir waren jedes Wochenende unterwegs und sind überall aufgetreten. In Discos, auf Schiffen, auf Firmenfeiern. Damals hatte jede große Party in Luxemburg eine Dragqueen!“ Nach sechs Jahren haben die beiden nicht mehr die gleichen Ziele. Sam will weiter auftreten, sein bester Freund will sich auf sein Privatleben konzentrieren. „Wir haben die Shemales auf Eis gelegt und ich habe für eine andere bekannte Truppe in Luxemburg gearbeitet.“

Vor vier Jahren ruft Sam die Shemales wieder ins Leben. Am Anfang sind nur er und Thierry dabei. Inzwischen sind Kevin alias Stella Urinella und Jean-Marie alias Madame Gigi – die bekannteste und älteste Dragqueen des Landes – dazugestoßen. Jean-Marie war vor 44 Jahren der Erste, der Travestie-Shows in Luxemburg machte.

Grenzen als Mann und Frau

„Highlighter, Highlighter, Highlighter!“ Sam verteilt das schimmernde Puder großzügig in seinem Gesicht. Eines der liebsten Produkte seines weiblichen Ich. So verwirrend es ist, hier abwechselnd von Sam und Thalia, „ihm“ und „ihr“ zu sprechen, ist es auch für Sams Partner Jérôme, der bei jeder Show dabei ist und seinen Lebensgefährten unterstützt. „A la maison, on est à trois. Sam, moi et Mademoiselle“, sagt Jérôme mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Dabei hat Thalia einen weitaus größeren Kleiderschrank als Sam. „Wenn ich noch ein bisschen weiter shoppe, müssen wir in eine größere Wohnung ziehen“, sagt dieser schuldbewusst. Alleine für diesen einen Auftritt hat Sam acht Perücken, acht Outfits und vier Paar Schuhe dabei.

Seinen Lebensgefährten hat Sam vor sieben Jahren kennengelernt. Jérôme war anfangs ein wenig skeptisch. Schließlich wollte er einen Mann und keine Frau zum Partner. „Als er verstanden hat, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat und ich zu Hause keine Frauenkleider und Perücken trage, war alles gut.“ Thalia nennt ihn liebevoll ihren Pitbull. Kommt irgendwer ihr zu nahe, ist er gleich zur Stelle, um sie zu beschützen. „Besonders heterosexuelle Männer kennen oft ihre Grenzen nicht, wenn ich im Drag-Kostüm bin. Sie fassen mich gerne mal an, besonders an den falschen Brüsten“, sagt Sam.

„Je mehr Farbe ich im Gesicht habe, desto mehr fühle ich mich wie Thalia.“ Er setzt seine Perücke aus langen, platinblonden Haaren auf. Die, die ihn am meisten an sein Idol Lady Gaga erinnert. Die US-amerikanische Popsängerin ist neben Céline Dion und Madonna sein größtes Vorbild.

Eine andere, für ihn wichtige Inspirationsquelle ist die US-amerikanische Reality-Show „RuPaul’s Drag Race“. Eine Fernsehshow, bei der RuPaul auf der Suche nach Amerikas nächstem Drag-Superstar ist – vergleichbar mit „Germany’s next Topmodel“. „In der Szene kennen wir die Serie schon, seit es sie gibt, sprich zehn Jahre. Ich finde es toll, dass inzwischen jeder sie auf Netflix anschauen kann.“ Der Hype rund um Travestie-Künstler hat in Sams Augen in Luxemburg etwas abgenommen. „Aber vielleicht ändert sich das ja jetzt, wo RuPaul langsam hier ankommt“, vermutet er.

Aus Sam wurde innerhalb von knapp zwei Stunden Thalia Garcia. Die große Blondine vermittelt genau das, was auch Sam bei seiner ersten Drag-Show als beängstigend empfand: Autorität und den Anspruch auf Aufmerksamkeit. Auch seine (oder ihre?) Gangart hat sich verändert. Mit selbstbewusstem Hüftschwung begibt sich Thalia die Treppen hinunter, um die Gäste zu begrüßen. Es hat etwas Magisches, dieses Gefühl, es stehe eine völlig andere Person vor einem.

Jacques Zeyen
21. November 2018 - 23.06

Corr: DEINER Wellenlänge

Jacques Zeyen
21. November 2018 - 21.16

Bravo Sam. Lade doch gleich unsere Eminenz aus dem Bistum ein. Ich glaube das wird ein tolles Erlebnis. Die sind auf seiner Wellenlänge,aber sie dürfen es nicht zugestehen.