Am Tag nach dem Tornado: Wie es den betroffenen Bürgern in Petingen geht

Am Tag nach dem Tornado: Wie es den betroffenen Bürgern in Petingen geht

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Am Morgen nach dem Tornado, der am frühen Freitagabend ganze Straßen der Gemeinden Petingen und Käerjeng verwüstete, haben Bürger und Sicherheitsdienste den Großteil des entstandenen Chaos schon beseitigt. Zurück bleibt eine Schneise der Zerstörung. Dächer und Gebäudeteile wurden von der Windhose weggerissen, in den Straßen häufen sich die Trümmerberge. Das Tageblatt hat mit Betroffenen gesprochen, die nun mithilfe ihrer Mitbürger versuchen, wenigstens einen Teil ihres Zuhauses zu retten.

Text: Laura Tomassini, Fotos: Julien Garroy

Es sind Bilder wie aus einem Kriegsfilm. Die Sicht vom Petinger Bahnhof aus über die Dächer der Stadt scheint fast surreal. Wie ein Ausschnitt, der aus einem Foto herausgenommen und auf das sonst so geregelte Äußere von Luxemburg aufgeklebt wurde. Überall liegen Äste und Gestrüpp, die Straßenränder sind voll mit Teilen von Autos, von Gartenzäunen, ja von ganzen Gebäuden, die dem gestrigen Tornado weichen mussten.

Am Vormittag nach dem schlimmen Sturm, der durch den Süden des Landes fegte, ist es allerdings vergleichsweise ruhig in den Gassen von Petingen. Feuerwehr, Militär und Helfer aus der Gemeinde haben das meiste schon weggeräumt. Übrig geblieben sind nur die klaffenden Löcher über den Häusern, wo noch am Tag zuvor ein Dach die Zimmer bedeckte. Kaum zu glauben, dass innerhalb von nur wenigen Minuten alles weg sein kann. Doch die Spuren sind unübersehbar.

Plötzlich explodierte die Fenster

In der rue Grande-Duchesse Charlotte hilft eine Gruppe Freiwilliger, die Trümmer eines Einfamilienhauses wegzuräumen. Sie alle wohnen nur ein paar Straßen entfernt, ihr Zuhause ist vom Tornado verschont geblieben.

Nur einige Meter weiter stehen zwei ältere Damen vor einem Wohnkomplex. Zu sich können sie derzeit nicht, denn die rue Neuve hat es mit am schlimmsten getroffen. „Ich war mit meiner Enkelin zu Hause, als ich ein lautes Krachen hörte. Ich sagte noch zu ihr, sie solle keine Angst haben, Oma werde schnell die Fenster schließen, als plötzlich das Glas explodierte und alles von den Wänden herunterkam“, berichtet Frau Jagodin.

„So etwas noch nie in 56 Jahren erlebt“

Nur ein paar Minuten vorher habe sie noch mit ihrer Enkelin draußen im Garten gespielt, der Regen scheuchte die italienische Nonna ins Haus. „Gott sei Dank, sonst wären wir beide mit weggewirbelt worden.“

Frau Jagodin und ihre Nachbarin müssen nun bei ihren Kindern unterkommen, denn die Häuser in der rue Neuve sind derzeit nicht mehr bewohnbar

Passiert ist ihnen nichts, doch der Schock sitzt tief: „Ich hatte die Kleine auf dem Arm und wurde in der Tür zum Wohnzimmer eingeklemmt. Es war der reinste Albtraum.“ Erst jetzt, einen Tag danach, realisiert Frau Jagodin, was ihr Haus da zerstört hat: „Wir dachten, es wäre nur der Wind. Ein normaler Sturm halt. Aber ein Tornado, ich wohne jetzt seit 56 Jahren in Luxemburg und so etwas habe ich noch nie erlebt.“

Zurück in ihr Haus kann die Rentnerin nicht – Dach, erstes Stockwerk, alles ist weg. „Wir haben schon viel Hilfe beim Aufräumen erhalten, aber drinnen liegt alles voller Scherben und Trümmer. Die Polizei hat uns gesagt, wir dürfen das Gebäude nicht mehr betreten. Nun müssen wir bis Montag warten, bis die Versicherung wieder geöffnet hat“, meint sie.

Auch ihre Nachbarin muss bei ihrer Tochter Unterschlupf suchen. Was genau passiert ist, begreift sie erst nach dem Sturm: „Alles ist so schnell passiert, man hatte nicht einmal Zeit zu begreifen, was da geschah. Ich wollte noch raus die Fenster schließen, da flog plötzlich alles durch die Luft. Es war schrecklich.“

Ziegel flogen weg

Auch in der rue Prince Jean stehen die Bewohner fassungslos vor ihren Häusern. Ana Netos Familie ist nichts passiert, doch der Schaden im Dachgeschoss ist erheblich: „Die gesamten Ziegel sind einfach weggeflogen, sogar das Dachgerüst wurde weggerissen. Jetzt versucht mein Mann, alles, so gut es geht, mit Plastik abzudecken, aber wenn noch mehr Regen und Wind kommt, dann wird das zu einem großen Problem, denn es liegen überall Steine und Mauerteile auf dem Dachboden, die herunterfallen können. Es ist momentan sehr gefährlich.“

In der rue Prince Jean hat es Haus 10 in der Straße am schlimmsten erwischt, jetzt hofft die Familie auf schnelle Hilfe. „Wir kommen gerade aus der Versammlung mit der Gemeinde. Man hat uns gesagt, dass schnellstmöglich ein Gutachter vorbeigeschickt wird, um die Sicherheit unseres Hauses einzuschätzen. So wie es jetzt ist, können wir nicht lange drin bleiben. Der Rohbau ist aus Beton und hat sich mit Wasser vollgesaugt, das jetzt in die Räume darunter tropft. Hinten wurde alles weggerissen, da ist nichts mehr“, so Neto.

Schock bei den Anwohnern

Auf die Einschätzung der Versicherung muss die Familie noch bis nächste Woche warten, derzeit hat die Agentur geschlossen. „Wenn unser Haus als unbewohnbar eingestuft wird, dann müssen wir irgendwo anders unterkommen. Wahrscheinlich in der Sporthalle in Petingen. Das Wichtigste für uns ist jetzt allerdings, weitere Schäden und Kosten, so gut es geht, zu vermeiden.“

Der Schock bei den Eltern und den drei kleinen Töchtern sitzt tief, während des Sturms waren alle zu Hause: „Wir sind alle zusammengeblieben und haben versucht, unsere Mädchen zu beruhigen. Es war furchtbar, alles im Garten wurde herumgewirbelt.“

Ein Haus wurde von Holzbalken durchbohrt

Auch die Bilder der Straßen am Tag danach machen der jungen Mutter zu schaffen: „Damit hatte einfach niemand gerechnet, nicht dass es so heftig sein würde. Mein Herz hämmert immer noch. Nach dem Tornado ging mein Mann in den zweiten Stock und meinte, das Licht dort würde noch funktionieren. Ich sagte zu ihm, das sind nicht die Lampen, das kommt von unserem Dach. Das Gefühl war einfach grauenvoll.“

Ana Neto war mit ihrem Mann und den drei Töchtern zu Hause, als der Tornado ihr Dach wegfegte

Auch die Schäden in der rue de Luxembourg lassen sich nur schwer beschreiben. Die Fassaden der Gebäude ähneln jenen, die man aus Kriegsfilmen kennt. Die Spuren an Mauern und Balkonen sehen aus wie Einschusslöcher, in den Vorgärten liegen ganze Kamine und das Haus 54 in der Luxemburger Straße wurde von mehreren Holzbalken durchbohrt.

Gegenüber ist eine Familie dabei, das zu retten, was vom trauten Heim noch übrig ist. Vom früheren Satteldach fehlt jede Spur, in die Zimmer des ersten und zweiten Stockes sieht man von der Straße aus direkt hinein. Mauern stehen hier keine mehr. Eine Bekannte der Dame, die dort wohnt, informiert Journalisten und Passanten über den Gemütszustand der Hausbesitzerin: „Sie ist mit den Nerven am Ende.“ Ein Teil der Garage hinter dem Haus muss wohl der Abrissbirne weichen, denn auch ohne Architektenausbildung wird schnell klar: Reparieren kann man hier nichts mehr.

Einsturzgefahr bei Reihenhäusern

Ähnlich düster klingen die Prognosen für die rue Neuve. Sämtliche Dächer der rechten Seite wurden dem Erdboden gleichgemacht, ganze Hausteile sind einfach wie weggefegt. In der Straße tummeln sich Feuerwehr, Soldaten, Polizisten, Anwohner und Helfer, die alle versuchen, wenigstens den Inhalt der Gebäude zu sichern.

„Wir sind seit gestern Abend ununterbrochen dabei, so viel wie möglich aus den Häusern herauszubekommen und bei Bekannten unterzubringen. Uns wurde von der Gemeinde gesagt, dass die Gefahr eines Einsturzes besteht. Alle Gebäude sind miteinander verbunden. Stürzt ein Haus ein, stürzen alle ein. Deshalb müssen wir uns beeilen“, erklärt Marylène Schleich. Sie selbst wohnt nicht im Viertel, sondern hilft mit Freunden und Verwandten, das Haus ihrer Nichte zu räumen.

„Meine Schwägerin ist im Urlaub, deshalb haben wir das jetzt übernommen. Das Dach ist komplett weg, genau wie verschiedene Mauern. Andere haben große Risse, sodass die Decke über den anderen Zimmern auch anfängt zu bröckeln, da der Regen gestern einfach zu stark war. Wir werden also höchstwahrscheinlich nicht nur den Dachboden verlieren, sondern auch das ganze erste Stockwerk.“

Manche Betroffene sind im Urlaub

Kiste um Kiste schleppen die Anwohner aus ihrem Zuhause, vor den Türen sitzen Leute auf den Treppen und starren mit leerem Blick auf die verwüstete Straße. Doch an Pause ist nicht zu denken, denn die Helfer stehen unter Zeitdruck. „Eigentlich dürfen wir schon längst nicht mehr ins Haus hinein.“

Die Unterstützung der Gemeinde und Versicherung weiß Marylène zu schätzen: „Ein Inspektor geht von Haus zu Haus, um die Lage einzuschätzen. Wir müssen nun einen Kostenvoranschlag von einer Firma beantragen und diesen dann zu Foyer schicken. Ich muss sagen, dass sowohl die Stadt als auch die Versicherungsleute ihre Arbeit wirklich gut machen.“

Ihr bleibt nichts anders übrig, als weiter aufzuräumen und auf die Rückkehr ihrer Familie zu warten: „In der Luxemburger Straße herrscht dieselbe Misere, mein Bruder sitzt ebenfalls ohne Dach da. Ich habe meiner Schwägerin gesagt, sie soll nicht aus dem Urlaub nach Hause kommen. Sie braucht das hier nicht mit anzusehen. Wir übernehmen das jetzt und funktionieren einfach. Morgen wird dann erst geschaltet“, so Marylène.

Gemeinsam mit Bekannten trägt Marylène Schleich die Habseligkeiten ihrer Schwägerin aus dem Haus, denn in der rue Neuve herrscht akute Einsturzgefahr

So richtig begreifen werden die Bewohner von Petingen ihre Lage wohl wirklich erst in den nächsten Tagen. Jetzt liegt die Priorität erst mal in der Beseitigung der Trümmer. Und die geleistete Hilfe ist riesig: Jeder mit Arbeitshandschuhen packt mit an, Bäume, die einstürzen könnten, werden von den Feuerwehrleuten beseitigt, Dachdeckerfirmen kümmern sich um erste Dichtungsarbeiten und Freunde und Bekannte mobilisieren jeden auffindbaren Anhänger, um die Schneise des Tornados so schnell wie möglich wieder herzurichten. Und auch bei den befragten Betroffenen herrscht trotz Verzweiflung Dankbarkeit, denn keinem von ihnen ist etwas passiert. Dächer lassen sich ersetzen, ein Menschenleben dagegen nicht.