50 Jahre Woodstock: Big Bang auf dem Acker, der die Welt bedeutet

50 Jahre Woodstock: Big Bang auf dem Acker, der die Welt bedeutet

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Eine Retrospektive über den Ablauf des bedeutendsten Rockfestivals der Geschichte, einige skurrile Anekdoten und der Versuch einer Antwort auf die Frage, was vom Mythos bleibt.

Von unserem Korrespondenten Gil Max

Sie fand vom 15. bis 17. August 1969 gar nicht in Woodstock statt, sondern auf dem 243 Hektar großen Farmgelände von Max Yasgur, etwa 70 Kilometer entfernt, nahe Bethel im Bundesstaat New York: Die „Woodstock Music & Art Fair“, welche die vier jungen Veranstalter unter das Motto „3 Days of Peace & Music“ gestellt hatten.

In der Musikerkolonie Woodstock selbst hatte eine Bürgerinitiative das Festival verhindert. Unter der Überschrift „Hunderte Morgen Land zum Wandern“ hatten der 24-jährige Michael Lang und seine drei ebenso jungen Mitstreiter in allen großen Printmedien eine Anzeige geschaltet, die gestressten Großstädtern riet, doch einmal spazieren zu gehen und sich in die Sonne zu legen, ohne Blick auf Wolkenkratzer und Verkehrsampeln. Das angekündigte Event warb nicht nur mit Konzerten von über 30 Künstlern, sondern auch mit Kunstausstellungen, einem Kleidermarkt, Workshops und dergleichen.

Wie ein Damoklesschwert

Die Veranstaltung sollte demnach von Anfang an mehr sein als ein Freiluftkonzert, eher eine Veranschaulichung des Way of Life der Hippiebewegung, ein riesiges Treffen und damit wohl auch eine Art Machtdemonstration – zumindest ein Statement – der Vertreter der Gegenkultur. Ähnlich wie heute im Rahmen der allgemeinen Klimadebatte, war es damals für einen jungen Menschen nahezu unmöglich, unpolitisch zu sein. Politik war im Jahr 1969 allgegenwärtig, die amerikanische Gesellschaft tief gespalten und das politische System stand vor einem regelrechten Kollaps.

Wie ein Damoklesschwert hing eine große Bedrohung über der jungen Generation: Der bereits 14 Jahre währende Vietnam-Krieg schien nicht enden zu wollen und eine mögliche Einberufung junger Rekruten wurde als reale Bedrohung wahrgenommen. Hinzu kam die Erschütterung nach den politischen Morden an Bobby Kennedy und Martin Luther King, die mit einem Anschlag auf die Bürgerrechtsbewegung gleichgestellt werden konnten. Der politische und kulturelle Wandel, der in musikalischer Hinsicht nicht nur von Mahalia Jackson, Nina Simone oder Sam Cooke, sondern auch mit Hilfe von Songs weißer Musikerinnen und Musiker wie Woody Guthrie, Bob Dylan und Joan Baez angestoßen worden war, hatte einen herben Rückschlag erlitten. Es war Zeit für einen erneuten Aufbruch!

Organisatorischer Albtraum

Und so brachen über 400.000 Menschen zum Woodstock-Festival auf, wo die Veranstalter höchstens die Hälfte erwartet hatten, zum „Big Bang“, als das es der Sänger David Crosby Jahre später bezeichnete. Bereits am Donnerstag waren über 50.000 da, als die Veranstalter noch nicht einmal alle Zäune gezogen, Eingänge und Tageskassen eingerichtet hatten. Sie merkten schnell, dass es ein Ding der Unmöglichkeit werden würde, jedem Besucher Eintrittsgeld abzuknöpfen und sahen rasch davon ab, vermutlich auch, um Ausschreitungen zu vermeiden. Es wird geschätzt, dass rund 300.000 Besucher das Festivalgelände umsonst betraten, obwohl die Kartenpreise, auch für damalige Verhältnisse, sehr niedrig angesetzt waren: Eine Tageskarte kostete sieben Dollar.

Am ersten Festivaltag brach dann das völlige Chaos aus. Es begann damit, dass der Verkehr um das Festivalgelände herum komplett kollabierte. Es gab bis zu 27 Kilometer Stau bei der Anfahrt, die durchschnittliche Wegstrecke vom Auto zum Gelände betrug satte 24 Kilometer. Viele der Marschierenden waren irgendwann so fertig, dass sie ihre mitgeführten Habseligkeiten einfach fallen ließen. Überall lagen Stühle, Schlafsäcke, Zelte, Koffer, Klamotten und sogar Instrumente herum.

Eine verdreckte rosafarbene Decke

Ein junges Pärchen, das sich spontan zum Festivalgelände begab, weil es in der Nähe lebte, las unterwegs eine Decke auf, die weltberühmt werden sollte. Es ist die abgehalfterte Decke, in die sich abseits des Konzertgeschehens ein junger Mann und seine Freundin hüllten – ein Schnappschuss, der das Cover des ersten Woodstock-Albums ziert – und die seither zu einer Art Ikone des Festivals geworden ist.

Die heute 70-jährigen Bobbi Ercoline und ihr Mann Nick haben die Geschichte der Decke vor kurzem in mehreren Interviews erzählt. Man erfährt, dass das Requisit das Festival überlebt habe und noch über zehn Jahre im Gebrauch gewesen sei, ehe man es im Müll entsorgt habe. Für die Verwendung des Bildes, so die Zeitzeugen weiter, hätten sie nie eine Vergütung erhalten, und 1989 habe gar jemand 30.000 Dollar für die Decke geboten, doch da habe sie bereits auf der Müllhalde gelegen. Die beiden nehmen das alles mit großem Humor und scheinen stolz darauf zu sein, Teil des Mythos Woodstock geworden zu sein.

Sinnbild von Akzeptanz und Solidarität

Woodstock war drei Tage lang die drittgrößte Stadt im Bundesstaat New York. Eine knappe halbe Million Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht, Ellbogen an Ellbogen, ohne den geringsten Gewaltausbruch. Der Symbolwert des Festivals als Friedensfeier ist bis heute unbestritten. Das ist keine romantische Verklärung, sondern Fakt. Die chaotische Organisation führte, vor allem hinter den Kulissen, im Verlauf des Wochenendes zu einer immer größeren Anspannung, da die Veranstaltung jeden Augenblick komplett aus dem Ruder zu laufen drohte und durchaus in einer Katastrophe hätte enden können. Dass das nicht geschah, grenzte an ein Wunder.

„Ich habe“, erklärte ein Polizeiofficer, „noch nie so viele Menschen gesehen, die sich auf engstem Raum so friedlich verhielten“. Es herrschte Wassermangel, das Essen war den Veranstaltern bereits Freitagnacht ausgegangen. Für Hunderttausende Besucher standen nur 600 Toiletten bereit, die aufgrund der Staus nicht geleert werden konnten. Zu Beginn brannte die Sonne bei 35 Grad, nirgendwo gab es Schatten, dann zog ein gewaltiger Sturm auf und nach dem Regen brannte erneut die Sonne erbarmungslos herunter, sodass der Dunst aus dem Schlamm emporstieg. Die Menschen saßen nass bis auf die Knochen im Matsch, aber nahmen es klaglos hin.

Für Danny Goldberg, der als 19-jähriger Fotograf für das Musikmagazin Billboard auf dem Gelände unterwegs war, war Woodstock daher auch „ein Festival des Humanismus und der Zivilisation“. Er fasste es folgendermaßen zusammen: „Die Menschenmasse war so groß, dass niemand mehr für sie verantwortlich sein konnte, sodass jeder Einzelne verantwortlich wurde.“ Das Suboptimale, Chaotische, Unberechenbare ließ die Menschen noch näher zusammenrücken. Alle trotzten gemeinsam sämtlichen Widrigkeiten. Am Morgen des dritten Festivaltages verkündete „Wavy Gravy“, Chef der Hippie-Kommune „Hog Farm“, die auch für die Sicherheit zuständig war, dass es nun „Breakfast in Bed for 400.000“ gebe und meinte, dass es „in jeder Katastrophe auch ein Stück Himmel“ gebe; wenig später wurde das berühmte „Hog Farm“-Müsli für alle serviert.

Santanas Kampf mit der Schlange

Und dann war da natürlich noch die Musik! Einige Auftritte sind, spätestens nach der Veröffentlichung des Woodstock-Films ein Jahr später, ins kollektive Gedächtnis geraten und waren, trotz des Spielplans, der ständig durcheinandergeriet, und des scheinbar unglaublich miesen Sounds schlichtweg grandios.

Da trat eine junge Band auf, von der noch niemand was gehört hatte, weil sie noch nicht mal ein Album veröffentlicht hatte. Die Truppe hatte gerade mal 750 Dollar Gage erhalten, doch erteilte dem faszinierten Publikum eine Lehrstunde in Sachen Latin- und Psychedelic-Rock. Ein knapp 20-jähriger Drummer namens Michael Shrieve, der aussah wie ein 15-Jähriger, entfachte gemeinsam mit seinen Kollegen Michael Caraballo und José „Chepito“ Areas an den Congas und Timbales ein Percussionfeuer, während der Bandleader versuchte, die Schlange, die aus seinem Gitarrenkorpus emporstieg, zu bändigen. Er hieß Carlos Santana und hatte vor dem Auftritt LSD erhalten, und zwar von Grateful-Dead-Gitarrist Jerry Garcia, das der junge Musiker gedankenlos einwarf, weil er laut Spielplan erst in fünf Stunden auf die Bühne musste.

Joni Mitchell und Bob Dylan 

Eine halbe Stunde später – die Dröhnung des Halluzinogens setzte gerade ein – wurde ihm mitgeteilt, dass seine Band raus musste und so begann Santanas Kampf. Nicht immer ist Drogenkonsum der musikalischen Qualität dienlich, in diesem Fall scheint es allerdings so zu sein. Lange hielt sich das Gerücht, Jimi Hendrix habe das LSD weitergereicht, doch Organisator Michael Lang hat in seiner jüngsten Veröffentlichung „Woodstock. Die wahre Geschichte“ viel Halbwissen widerlegt.

Apropos Gerüchte: Manche Menschen wollen nicht glauben, dass Janis Joplin in Woodstock auftrat, weil ihre Songs auf keinem der beiden Woodstock-Sampler erschienen, was dem Umstand geschuldet ist, dass ihre Plattenfirma das Material nicht freigab. Andere wiederum glauben immer noch, Joni Mitchell und Bob Dylan hätten am Festival teilgenommen. Doch Mitchell verbrachte lieber einen ruhigen Abend im Hotelzimmer mit ihrem Manager David Geffen, wo sie inspiriert von der Berichterstattung über die Veranstaltung den Song „Woodstock“ schrieb, während Dylan es vorzog, nach seinem Motorrad-Unfall beim Isle-Of-Wight-Festival auf die Bühne zurückzukehren.

Weil Mister Zimmerman jedoch in Woodstock lebte, wurde während des gesamten Festivals gemunkelt, er stehe hinter der Bühne und würde jeden Augenblick auftreten: ein herrlicher „Hoax“ im prädigitalen Zeitalter, mit dem alle gefoppt wurden. Jimi Hendrix war übrigens mit einer Gage von 18.000 Dollar bei weitem der teuerste Act, dessen Gig zum krönenden Abschluss am Sonntagabend geplant war.

The Star Spangled Banner

Doch wegen der ständigen Zeitverschiebungen spielten am letzten Festivaltag die ganze Nacht über Bands, sodass sich Jimi schließlich am Montagmorgen um halb neun – vor vielleicht 40.000 verbliebenen Fans – seine Fender umschnallte, mit der er sich anschickte, die amerikanische Nationalhymne mit reichlich Gejaule und Feedback zu zerfetzen.
Bis heute werden diese dreieinhalb Minuten als die kritische Stellungnahme Woodstocks gegen den Vietnam-Krieg interpretiert, obwohl Hendrix das nie bestätigte und diese geniale Kakophonie bereits bei früheren Konzerten veranstaltet hatte.

Auch die Konzerte der ebenfalls noch recht unbekannten Joe Cocker und Johnny Winter waren mitreißend, die neugegründete „Supergroup“ Crosby, Stills, Nash & Young, die erst ihr zweites gemeinsames Konzert spielte, wusste zu überzeugen und Sly & The Family Stone, die um halb vier Uhr morgens Tausende aus den Schlafsäcken holten und zum Tanzen brachten, waren ein weiteres musikalisches Highlight.

Woodstock hat mit Sicherheit die moderne Festivalkultur geprägt, die sich 50 Jahre später in voller Entfaltung befindet, und hat zudem gezeigt, dass eine Gegenkultur Raum für sich besetzen, eine Botschaft verbreiten und Einfluss auf das Zeitgeschehen nehmen kann (Greta Thunberg, Rezo und andere lassen grüßen), auch wenn der Hippietraum wenig später ziemlich brutal zu Ende ging.

In Altamont erstachen die Hells Angels während des Auftritts der Rolling Stones einen jungen Schwarzen; Charles Mansons Hippiekommune startete seine Mordserie und Brian Jones ertrank unter mysteriösen Umständen in seinem Pool, womit er eine erschreckende Serie von Sterbefällen unter Rockstars initiierte; unter ihnen auch die beiden Headliner von Woodstock: Jimi Hendrix und Janis Joplin.


(Un-)Entschuldigt gefehlt

Namhafte Bands, die in Woodstock nicht dabei waren:

  • The Beatles: Michael Lang behauptet, John Lennon habe kein Visum von der Nixon-Administration erhalten; andere Quellen besagen, Lennon habe mit der Plastic Ono Band auftreten wollen, was die Veranstalter abgelehnt hätten.
  • The Rolling Stones: Mick Jagger war bei Dreharbeiten für den Film „Ned Kelly“ in Australien.
  • The Doors: Jim Morrison hatte angeblich Angst vor einem Anschlag und wollte überhaupt kein Open Air mehr spielen.
  • Led Zeppelin: Hatten einen Auftritt in der Asbury Park Convention Hall in New Jersey.
  • Blind Faith: Eric Claptons neue „Supergroup“ war nach wenigen Monaten bereits heillos zerstritten.
  • Jethro Tull: Ian Anderson wollte sein Wochenende nicht auf einem „Feld voller ungewaschener Hippies“ verbringen.

Empfehlungen  

Drei von vielen Veröffentlichungen, die wir im Rahmen des Woodstock-Jubiläums empfehlen:

CD-Tipp

Auf einem bei Rhino erschienenen Boxset mit 38 Tonträgern befinden sich alle 432 Songs, die in Woodstock gespielt wurden. Über die Hälfte davon besteht aus bislang unveröffentlichtem Material.

Fotoband

„Woodstock Vision“ des Fotografen Elliott Landy ist bei Zweitausendeins erschienen; die dazugehörige Ausstellung ist noch bis zum 30. September an mehreren Orten in Deutschland zu sehen.

Buch-Tipp

„Woodstock: Die wahre Geschichte“ („The Road to Woodstock“) von Michael Lang, erstmals in deutscher Übersetzung bei Edel Books erschienen.

Tom
19. August 2019 - 1.05

Wonnerbar Retrospektiv, villmols merci fir den Artikel.